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Dienstag, 2. Oktober ISS«. Rr. 27. Erster Jahrgang. 5luer Tageblatt und Anzeiger für das Erzgebirge Neianlwortlichrr Re-akienr: Fritz Rrnkoi-: Für -ie Ziiserale vermttworclich: Al beit Füchscl, beide in Aue. mit der- wöchentlichen Unterhaltungsbeilage: Illustriertes Sonntagsblatt. Sprechstunde der Redaktion mit Aurnahnir der Sonntage nachmittags oon «—?> Uhr. — Telegramm-Adresse: Tageblatt Ane. — Fernsprecher 202. Für »nnerlangt eingcsandte Manuskripte kau» Geuntbr nicht geleistet meiden. Druck und Verlag: Gebrüder Beuthner tZnlr.: Pani Benthner» i» Aue. Bezugspreis: Durch unsere Boten frei ins Bans monatlich sn Pf^ Lei der Ges<t>üslsftelle abgebolt monatlich so Psg. und wöchentlich >» pfg. — Lei -er Post bestellt und selbst abgebolt vierteijähriich I 'M Mk — Durch den Briefträger frei ins Haus vierteljährlich >.y2 Mk. - Einzelne Bummer io pfg — Deutscher postzeiliings- katalog Nr. — Srschelnt täglich in den Mittagsstunden, mit Ausnahme von Son», und Feie, tagen. Annabme von Anzeigen bis spätestens g';, Uhr vormittags. Für Ausnahme von grSsjeren Anzeigen an bestimmten Stellen kann nur dann gebürgt werden, wenn ste am Tage vorher bei uns eingehen. Z n sei t i o nsp re i s: Die siebengespaltene Aorpnszeile oder deren Raum zo psg., Reklamen 2» Pfg. Bei größeren Aufträgen entsprechender Rabatt. Viese Nuinnrev uinf«rtzt <> Seiten. Das Wichtigste vom Tage. Dir' Nachricht von einer neuen Mili tä rvorlagc mit nicht unbedeutenden Mchrsordenttigen wird entschieden in Abrede g e st e l l t. Zu der morsten in Berlin zusaninienirctendenKonferenz für Fnnkentelegravhic staben 27 answärtige Staaten ihre Teil nahme znstesagt. Der Tarifausschnsi der dentschen Buchdrucker hat steslern abend für eine weitere sünfjähristc Periode eine lOpro- zentige Lohnerhöhung znstestandcn, während die bisherige ncnn- stnnoige Arbeitszeit bcslehen bleibt und nur Sonnabends bez. am Zahltage um eine halbe Stunde verkürzt wird. t» Der christlich-soziale Parteitag in Weimar ist am Montag abend geschlossen worden. Die diesjährige Tagung des dänischen Reichstags ist gestern mit einer Thronrede erösfnet worden, in der der König u. a. seine Absicht bei den Souveränen verschiedener Länder Be suche zu machen, kundgibt. Es ist bekanntlich lriemals ausgeschlossen, daß der deutsche Staatsbürger während der schönen Parlamentszeit eines Mor gens zum Frühstück mit neuen Flottenforderungen überrascht wirk. In der sprunghasten Art, in der bei uns Politik getrie ben wird, kann man cs erleben, daß heuteder Herr v. Tirpitz versichert, cs sei gar nicht nötig, noch neue Schisse zu bauen und daß dann morgen bereits eine recht hübsche Forderung an den deutschen Reichstag gelangt. Nun ist bekanntlich unsere Flotte erst in der letzten Session wieder einmal auf Jahre hinaus im Prinzip sestgelegt worden, aber das schließt eventuelle Nachforde rungen schon im kommenden Abschnitt der Reichstagstagung ab solut nicht aus. Leute, die darum wissen können, wollen ja auch schon derartiges gehört haben, und bei der Bewilligungsfreudig keit des deutschen Reichstags darf man garnicht überrascht sein, wenn Herr v. Tirpitz, oder vielmehr die Stelle, die hinter ihm steht deni englischen angeblichen Abrüstungsgedanken neue For derungen siir die Flotte entgegensetzt. Dieser Eventualität gegenüber ist es gut, aus das neueste englische Flotten Unglück hinzuweisen. Wir meinen den Vorfall mit der „Hibernia", dem man anscheinend in der deutschen Presse nicht die geziemende Aufmerksamkeit geschenkt hat. Der Vorfall selbst ist bekannt. Die „Hibernia", ein mo dernstes englisches Schiss, ist letzter Tage von Plymouth ausge- sahren, um die neuen Geschütze zu erproben. Als Wrak ist die „Hibernia in die Heimat zurückgekommen. Der Schiffskörper hat den Luftdruck, den die neuesten Geschosse verursachten, nicht aus gehalten. Die Panzerung wurde zerrissen, dis Decks verbogen, und eine Anzahl von Mannschaften nicht unerheblich verletzt. Das Schiss, das 30 Millionen Mark gekostet hat, mutz ins Trocken dock gehen, und es ist sehr fraglich, ob es in Zukunft überhaupt noch als vollwertig gelten kann. In englischen Blättern hat man diesem Vorfall beinahe als nationale Katastrophe behandelt, und man kann das begreiflich sinden. Der „Dreagnouth"-Typ, aus den sich die Engländer so un endlich viel eingebildet hatten, ist wertlos, wenn die kolossalen Schiffskörper nicht isnstande sind, den Lustdruck auszuhalten, den die neuen, dem Typ angepaßten Geschütze verursachen. Mit deni Deplazement allein ist es nicht getan, die Armierung mutz mit ihr gleichen Schritt halten. Ist das aber nicht möglich, dann ist alle Deplazementserhöhung umsonst. Diese Riesenkoloste, die nur durch die ungeheure Kraft ihrer Geschütze etwas bezwecken kön nen, sind völlig wertlos in dem Augenblick, da sich herausstellt, daß sie mit den gleichen Geschützen armiert werden müssen, wie die kleineren und infolgedessen manövrierfähigeren Schisse. Das ist nicht nur für die englische, sondern auch für unsere Kriegs marine von recht wesentlicher Bedeutung. Bei uns soll bekanntlichoaran gegangen werden, Kriegs schiffe mit erhöhtem Deplazement zu bauen. Man will bis zu 18.000 Tonnen zu kommen und selbst verständlich soll die Armie rung damit gleichen Schritt halten. Wenn nun der Unfall, der der „Hibernia" passiert ist, nicht nur einem unglücklichen Zufall zuzuschreiben ist, dann wäre es doch sehr wünschenswert, einmal die Untersuchung abzuwarten, die sich mit der Affäre beschäftigen soll. In Epgland, dem Lande der absoluten Preßfreiheit, wird man keinesfalls davor zurückschrecken, das Untersuchungsresultgt auch bekannt zu geben, und das wäre für uns ungeheuer inter essant. 'Warum sollen wir denn einen Leviathan nach dem an deren bauen, wenn cs sich herausstellt, daß diese Kolosse das Schießen mit den dazu gehörigen Geschützen nicht aushalten? Die Schiffe kosten uns doch ein ungeheures Geld, und wir sind wahrhaftig nicht in der Lage, das Geld zum Fenster hinauszu werfen, besonders wenn, was bekanntlich nicht ausgeschlossen, ist, unsere Armee wieder einmal anders gefärbt. Nach dem Moniteur des Herrn August Scherl sollen ja bereits die ent sprechenden Vorschläge gemacht sein, und wir werden uns in Bälde über diese neuen Beiträge zur Steigerung der Kriegs tüchtigkeit unserer Armee freuen dürfen. Ironie beiseite, es handelt sich hier um Milliarden, die aus dem Spiele stehen, und unter diesen Umständen darf man wohl kaum erwarten, daß unsere Akarinevcrwaltung eine abwartende Stellung cinnimmt, und einmal zusieht, ob unsere liebenFreunde jenseits des Kanals mit der „Dreagnouth"-Klasse hereingesallen sind oder nicht. Unsere besondere Liebe für Großbritannien ver pflichtet uns durchaus nicht, den Hereinfall nachzumachen und loszubauen. Wären die Heren jenseits des Kanals in der angeb lich in Aussicht genommenen Abrüstung begriffen, dann wäre es für uns wohl an der Zeit, überhaupt mit den großen Ausbau unternehmungen zu stoppen. Aber so weit sind wir leider nicht, und dem Landfrieden zu trauen, wenn Engländer im Spiele sind, dazu sind wir nicht naiv genug. Unsere Erwägungen aber gehen dahin, daß das deutsche Reich der Flottenkonkurrenz mit England bereits Opfer genug gebracht hat, getriebenen Vergrößerungsplänen einen gründlichen Reinsall — und das scheint nach den vorliegnden, jammervollen Ergüssen der Londoner Presse beinahe zweifellos, dann wollen wir uns in aller Ruhe darauf besinnen, daß im russisch-japa nischen Kriege nicht die Riesenkolosse den Anschlag gegeben haben, sondern die kleinen gefräßigen Haie, dieTorpedos. Es ist in der letzten Reichstagssession schon darüber gesprochen worden, aber bisher hat unsere Marineverwaltung die Konsequenzen daraus noch nicht gezogen. Vielleicht tut ste es, wenn England den Beweis geliefert hat, daß eine Vergrößerung des Schiffstyps technisch unfruchtbar ist. Denn, wenn schon weiter Schiffe gebaut werden müßen, dann sollen diese Schiffe wenigstens zweck mäßig sein. Politische Tagesschau. Verrtsetze» Aeioh. Aue, 2. Oktober 1000. Dir Braunschweigische Frage. Der amtliche Braunschweigische Anzeiger meldet: „Wir sind vom herzoglichen Staatsministerium angewiesen, folgendes be kannt zu geben: Die Nachrichten der Braunschweigischen Neuesten Nachrichten vom 30. v. M., daß im herzoglichen Staatsministe rium ein Schreiben des Herzogs von Tumberland eingelausen sei, das für die politische Lage bedeutsame Aus führungen des Herzogs enthalte, und daß die Wiedereinberufung des Landtages schon in nächster Zeit zu erwarten sein dürfte, ent spricht nicht den Tatsachen. Beim herzoglichen Staatsministe rium ist am 29. v. M. lediglich ein an den Staatsminister Dr. v. Otto gerichtetes Schreiben des Chefs der Verwaltung des Her zogs von Tumberland, Herzogs zu Braunschweig und Lüneburg vom 27. vorigen Monats eingelaufen, in dem mitgeteilt wird, daß der Herzog das Schreiben des herzoglichen Staatsmtniste- riums vom 25. v. M., mit dem ihm die Resolution der Landes versammlung von demselben Tage übersendet wurde, mit Dank empfangen und zur Kenntnis genommen hat, während ir gendwelche weitere Aeußerungen Uber die politische Lage nicht darin enthalten sind. Zu der beschleunigten Wiedereinberusung der Landesversammlung gibt der Inhalt des Schreibens keinen Anlaß. — Die Braunschweigische Landeszeitung bezeichnet die Nachrichten über ein wichtiges Schreiben des Herzogs von Cum berland an die Regierung ebenfalls als falsch. Die Welfische Volkszeitung in Braunschweig bringt einen Aufruf an die deut schen Fürsten und an die freien Städte, in dem ste diese aussordert, Gefährliche Narren. Deutsche Richter sind seit einiger Zeit von einer geradezu er staunlichen Milde. Eine Epoche der F r e is p r e ch u n g c n scheint angebrochen, die mit der sonstigen Praxis unserer Strafkammern aus de» ersten Blick gar nicht in Einklang steht. Das Wort „sreigesprochen" lacht uns in den Zeitungen am Schluß von Ge- richtsverhandlungsberichtcn fast täglich freudig entgegen. Wer sind diese zu beglückenden Menschen, denen es gelingt, dem düste ren Eifer des Staatsanwalts ihre Personen zu entziehen? Viel leicht Redakteure, die ihren persönlichen Vorteil hintansetzend um der Interessen der Allgemeinheit willen, wie sie sie verstan den, oder zugunsten leidender, unterdrückter Menschen, ein kühnes Wort wagten? O nein — nach der deutschen Rcchtspraxis hat der Idealismus keinen Anspruch auf Schonung, und das „berech tigte Interests" wird nur für die allerprivatesten Angelegen heiten, den ausgesprochenen Egoismus kannt. Jene Glück lichen sind in der Regel Trunkenl> o : : , die in ihrem viehi schen Zustande harmlose Bürger mit ist" -» Tätlichkeiten isul- tie^i»«*' in fremde Wohnungen einbrau,..., wehrlose Kinder für ih-' I^en unglücklich machten — Strolche, die kleinen Mädchen ar'. " Straße die Zöpfe abschnttten — Angestellte, die das Ver trauen ihrer Brotgeber täuschten und siw wie jener Schmetter lingsdieb in privaten Liebhabereien am zentum ihrer Herren vergriffe — vornehme Männer und Frauen, die in Waren häusern wie die Raben stahlen — Betrüger, Fälscher und der gleichen mehr. Sicherlich, sie freizusprechen, war den Richtern nicht sym pathisch; diese Subjekte erfreuten sich nicht der menschlichen Teil nahme der Hüter der gesellschaftlichen Ordnung. Aber die Richter erkannten, wie es ihnen die Pflicht vorschrieb, der Wortlaut des Gesetzes, die Praxis, an die ste gebunden sind. Die Sachverstän digen erkliitten die Angeklagten für geisteskrank, für nicht verantw/ortlich für ihre Handlungsweise, für erblich be lastet, übernervös, unfähig, ihren krankhaften Trieben zu wider stehen, und den Richtern blieb kaum etwas anderes übrig als sreizusprechcn. Und was geschieht nun mit diesen Freigesproche- ncn, die als Ehrenmänner und -srauen mit beschränkter Haftung de» Gerichtssaal verlosten? Wenn sie bemittelte Verwandte haben, schicken diese sie wohl vorübergehend in eine Heilanstalt, aus der sie nach vier Wochen als angeblich gebessert nach Hause kommen, um bald danach wieder in die alten Laster zurück- zusallen; in den meisten Fällen aber werden ste direkt auf die Menschheit losgelasten, denn selbst wohlhabenden Verwandten liegt ost nichts an der meist „zwecklosen" Aufwendung ost ganz erheblicher Kosten. Der „Kleptomane" wird wieder stehlen, der Zopsabschneider wieder junge Mädchen ihres schmückenden Kör- percigentums berauben, der Sammler wieder Objekte entwenden, der Alkoholist wieder Menschen tätlich angreifen oder Kinder schänden, und niemand ist imstande, sich dagegen zu wehren. Denn gesetzt, daß der Uebeltäter bei einer dieser Handlungen abgefaßt würde, wird er seine Verfolger, die verhaftenden Beamten, nur auslache» und wie im Tabaret singen: Du lieber Himmelsvater, Erhalt die Psychiater — Denn mir kann gar nix geschehen, Weil ich pathologisch bin. Es gibt bekanntlich keinen raffinierteren Menschen als den Narren, und hat so einer das Glück, offiziel dafür erklärt worden zu sein, so jauchzt er laut, denn er hat dann einen Frei- brief, der ihm erlaubt, Gesetze, Staat, Mitmenschen zu verhöh nen, souverän wie ein Pascha zu leben, und die größten Schand taten auszuführen, ohne daß er jemals zur Rechenschaft gezogen weiden kann. Der Zechpreller hat das feinste Leben von der Welt — er speist in den ersten Restaurants in der Stadt und trinkt die köstlichsten Weine, ohne einen Groschen zu bezahlen — der Radaubruder insultiert mich auf der Straße, und ich bin wehrlos. Das ist kein Spiel der Phantasie, Fälle der Art er eignen sich alle Tage. In einem Hause, in dem ich vor Jahren wohnte, hatte der Portier die Spezialität, arme Leute, Hausie rer und dergleichen, durchzuprügeln, und er schlug sie halbtot, und wenn man ihm an den Kragen wollte, verwies er lachend auf ein altes Gerichtsurteil, das ihn unverantwortlich erklärte. Pro fessor Mendel hat früher in seinen Kollegs einen berühmten Typ vorgestellt, besten Besonderheit das Prellen von Droschken kutschern war. Dieser fuhr stundenlang als Grandseigneur durch die Straßen, um schließlich in einem Hause mit zwei Ausgängen zu verschwinden, über die er ein Verzeichnis hatte. Er wurde von allen Gerichten freigesprochen und amüsierte sich königlich, wenn der Gelehrte seine Pathologie vortrug. Schlimmer die Alkoholisten, die mit vollem Bewußtsein und Absicht sich betrin ken, und dann straflos Verbrechen auszusühren, die ste schon vor her, in nüchternem Zustande, geplant haben. Die Unruhe über Zustände dieser Art ist im Volke allgemein. Sie kehrt sich natürlich nicht gegn die Gerichtshöfe, die ihre Pflicht tun müssen, und den Gesetzen gehorchen, sondern gegen Gesetze resp. Eesetzmängel, die eine derartige Auflösung aller bürger lichen Ordnung bewirken. Die Aufgabe des Staates ist es, den Bürger in seinem Friedn und seiner Arbeit zu schützen, dafür be zahlt er seine Steuern; und wenn uns dann jeder Minderwertige, der sich seiner gerichtlich festgcstellte:: Narrheit mit größter Klar heit bewußt ist, unangefochten insultieren darf, so fühlen wir, daß unsere Rechte, für die wir bezahlen, nicht mehr genügend ge schützt sind. Der Richter, von seinem Standpunkt aus, kann garnichts in solchen Fällen tun. Es fehlt eine gesetzliche Bestimmung, die ihm ermöglicht,den Freigesprochenen sogleich aus dem Gerichts saal in eine Bewahranstalt zu schicken wo die Menschheit vor dem gefährlichen Narren sicher ist. Der Richter hat nur festzu stellen, ob das Gesetz verletzt ist, und ein Unverantwortlicher kann das Gesetz nicht in strafbarer Weise verletzen. Einen Landstreicher kann der Richter der Landespolizeibehörde zur Bewahrung überweisen, einen Geisteskranken nicht, obwohl dieser für die Allgemeinheit oft viel gefährlicher ist. Wir verlangen vom Staat vor allem Schutz der allgemeinen berechtigten Interessen, und der Gesunde hat mindestens ebensoviel Anspruch auf Schutz