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Montag, 1«. Dezember ISO«. U Aüü WM°stii! Nr. 8L. Erster Jahrgang. 5luer Tageblatt und Anzeiger für das Erzgebirge verantwortlicher Redakteur: Fritz Arii hott'. Für -ie Znserate verantwortlich: Arthur Kupfer, beide in Aue. mit der wöchentlichen Uiüerhaltungsbeilage: Illustriertes Sonntagsblatt. Sprechstunde der Redaktion mit Ausnahme der Sonntage nachmittags von 4—s Uhr. — Telegramm-Adresse: Tageblalt Ane. — Fernsprecher 202. Für unverlangt cingesandte Manuskripte kann Gewähr nicht geleistet werden. Druck und Verlag Gebrüder Leiithner (Inh.: Pani Beulhner) in Ane. Bezugspreis: Durch unsere Boten frei ins lfaue monatlich in Pfg. Bei der Geschäftsstelle abgeholt monatlich qr> pfg. und wdchentlich <o Pfg. — Lei der Post bestellt und selbst abacholt vierteljährlich >..io !Nk. — Durch den Briefträger frei ins lsans vierteljährlich >.q2 Mk. - Einzelne Nummer 10 pfg — Deutscher poftzeitnngs- katalog — -Lrschelnt tägti-ch in den Mittagsstunden, mit Ausnahme von Sonn- und Feiertagen. Annahme von Anzeigen bis spätestens Uhr vormittags. Für Ausnahme von grdßeren Anzeigen an bestimmten Stellen kann nur dann gebürgt werden, wenn sie am Tage vorher bei uns eingehen. )nscrtionsprcis: Die siebcngespaltcne Rorpuszeilc oder deren Raum M Pfg., Reklamen 2S pfg. Bei grSßercn Aufträgen entsprechender Rabatt. Diese rNtttriirer »rinf-tzt 8 Seiten Das Wichtigste vom Tage. Die Norddeutsche Allgemeine Zeitung veröffentlicht weitere Mitteilungen aus den neuen Etats für die Reichs kanzlei, des Auswärtigen Amts, des Reichsschatzamts, des Reichs amts des Innern und der Schutzgebiete. Kultusminister Br Land gedenkt scharfe Massregeln zu er greifen, um die Ausführung des Gesetzes über die Tren nung von Kirche und Staat in Frankreich trotz des po litischen Eingriffs des Papstes durchzusühren. Nachrichten aus Venezuela zufolge ist P r ä s i d c n t C a st r o von neuem schwer erkrankt. Frau C o s i m a W a g n e r, die Witwe des Tonmeisters, ist schwer erkrankt. * " Näheres siehe unten. Tie Versöhnung. Wir haben also recht behalten: rascher als inan eigent lich vermutete, wurde der äusserliche Friede zwischen Reichs regierung und Zentrum wieder hergestellt. Der Reichs kanzler, dessen Fernsein man vor acht Tagen so sehr bedauert hatte, stellte sich zwar aus denselben Standpunkt, wie der stell vertretende Kolonialdirektor mit dem heissen Blut, aber der To n ist's, der bekanntlich die Musik macht. Herr Roercn hat erklärt, dass er rein persönlich gehandelt habe, als er in die Asfäre Wiftuba eingrisf, dass die Parteileitung mit der gan zen Geschichte nichts zu tun habe. Man hat noch ein wenig über die Kolonialangelcgenheiten diskutiert, und dann stimmte das Zentrum selbst für die Beendigung der Debatte. Damit ist die Geschichte erledigt, und die Jubelsansaren, die allenthalben im Deutschen Reich ertönten, waren verfrüht. Die ausgestochene Eiterbeule des Herrn Dernburg — pardon, des Zentrums — pardon, des Herrn Noeren wird in wenig Wochen die Gestalt eines kleinen Pickelchens, einer kleinen Pustel angenommen ha ben, und zwischen der Regierung und dem Zentrum herrscht tieser Friede. Natürlich, denn man braucht sich ja gegenseitig! Ersreulich war die Assärc nicht, wie man uns zugeben wird. W i r betrachten sie schon von einer Art historischer Warte aus. denn sie gehört bereits der Geschichte an, wenn auch viel leicht die Nachwehen sich später noch bemerkbar machen werden. Diese langen Tage von Kolonialdebatten haben zwei unange nehme Beweise geliefert. Einmal den, dass es in unseren Ko lonien bisher nicht s o aussah, wie man es wünschen möchte. Das wusste man im allgemeinen ja, und die verschiedenen ausge deckten Skandale haben schon ein ziemlich klares Bild der Miss stände gegeben. Freilich hätte man nicht geglaubt, daß es auch deutsche Kolonialbcstien hcutenoch gibt, das; es deutsche Män ner gibt, die gegen Gesetz und Recht den Schwarzen schli m m e r behandeln als ein Stück Vieh. Man hat sich bisher so schon über belgische und andere Kolonialgrcuel entrüste» und tapfer schmähen können, und sieht sich nun selbst der Sünde blos — das ist für uns besonders bitter, weil w i r doch die Humanität be kanntlich in Erbpacht haben. Was soll man zu Beamten sagen, die ihre schwarze Konkubine mit der Gerichtsbarkeit be trauen, die sich einen Harem von Kindern anlegen, die Schwarze totprUgeln? Das sind bewiesene Dinge, und wir fürchten sehr, daß hier nur ein verschwindend geringer Teil von Bestialitäten aufgedeckt wurde. Zum anderen aber ist der Beweis geliefert, daß die Regie rung bisher ein Vertuschungssystem betrieb, das als ganz unglaublich bezeichnet werden mutz. Und daß Herr Dern- burg gute Lust zeigte, auch ein klein wenig mitzumachen. Es ist begreiflich, dass man die schändlichen Dinge am liebsten mit Schweigen zngedeckt hätte, aber heilsam war es, daß die Eiter beule - hier ist das Bild besser am Platz — ausgestochen wurde. Es ist aber ferner auch der Beweis geliefert worden, daß der Abgeordnete Roeren seinen Einfluß auf die Regierung als führendes Mitglied der Zentrumspartei mißbraucht hat. Er tat es als Privatmann, sagt man uns — die Ausrede ist nicht viel wert. Herr Roeren hat sich ausdrücklich auf das Zentrum berufen, als er sein Verlangen stellte, und das Zentrum würde ihn n i e desavouiert haben, wäre er nicht durch den Ko- lonialdircktor öffentlich bloßgestellt worden. Man weiß doch zur Genüge, wie die Geschichte „gemacht" wird! Wenn die Regie rung sich einmal dazu hcrgibt, mit einer starken Partei Kom promisse abzuschließen, so wird diese Partei ganz gewiß auch ihre Gegenforderungen stellen. Das ist noch immer der Fall ge wesen — soll es in Zukunst anders gehandhabt werden? Wir glauben nicht daran. Die Regierung hat in ihrer kolonialen Verlegenheit einen Blitzableiter gebraucht, und dazu Herrn Roeren ausersehen. Es hätte vielleicht auch Herr Erz - berger sein können, diePerson tut hier nichts, garnichts zur Sache. Da entschloß man sich eben, der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe, dazu, aus einen Wurf alles zu wagen. Man hat die Partei bloßgestellt, aber die Sache wird schon wie der gedeichselt. Fürst Bülow mußte seinen Dernburg halten, aber wir sind überzeugt, daß das Zentrum trotz dieser kleinen Kraft probe auch fernerhin sich mit der Regierung gut zu stellen weiß, und die Negierung mit ihr. Es ist nicht an dem, daß Herr Dernburg oder Fürst Bülow in plötzlichem Impuls wider den Zentrumsstachel hätte löken wol len: man hat, wie schon betont, der Welt ein kleines Schauspiel vorgcsührt, damit andere Dinge mehr in den Hintergrund ge schoben werden konnten. Erbaut wird das Zentrum allerdings nicht von den Worten des Herrn Dernburg gewesen sein, aber man wird in diesen Kreisen den scharfen Tadel zu tragen, und durch neue Forderungen auszugleichen wissen. Es ist ja noch nicht aller Tage Abend, und d i e Leute, die am Dienstag früh bereits Uber ein Abrücken der Regierung vom Zentrum frohlockten, die in Jubel darüber ausbrachen, daß der starke Mann im Kolonial amt das kaudinische Zcntrnmsjoch zerbrochen habe, machen h e u t e schon lange Gesichter. Die Politik wird nicht nach Stimmungen gemacht, sondern nach der großen und vielgerühmten Utilität. Die Reichsregie rung braucht das Zentrum — mit wem wollte sie denn regieren? Etwa mit den Konservativen, die uns ohnehin schon eine Teue rung gebracht haben und das Rad der Zeit zurückdrehen wollen? Oder mit den Sozialdemokraten? Dachte man etwaandie Aus lösung des Reichstags und einen Appell an das Volk? O nein! Fürst Bülow ist ein vorsichtiger Mann und er weiß genau, daß bei einer Wiederwahl das Zentrum wieder gut abgeschnitten hätte, weil es eben zu viele Trümpfe gegen die Regierung in der Hand hat. Und das Zentrum braucht die Regierung zur Er füllung seiner Wünsche, das ist auch klar. Also werden die bei den sich in Zukunft vertragen müssen, ob sie nun wollen oder nicht. Denn die Politik ist eine eiskalte Sache, sagt Fürst Bülow, der es wissen muß! Politische Tagesschau. Aue, IO. Dezember lOuu. Nur ein Deutscher soll Erzbischof von Posen werden. Das ist das rotvi nm r-r-nuon der Köln. Ztg. Sie erinnert an die katholischen Mainsranken, die sog. Bamberger, die sich um die Stadt Posen herum ansiedelten und heute Stockpolen sind: sie weist sodann daraus hin, daß dieser Verlust des Deutsch tums sich stets wiederholt habe und sich noch heute wiederhole, oa die fanatische Geistlichkeit nicht germanisiere, sondern polonisiere: wörtlich sagt sie hierauf: „Die deutschen Katholiken sollen ihrer Kirche treu bleiben, aber auch ihr Volkstum wacker vertei digen gegen das mächtig andrängende Slawentum. Das kann aber nur geschehen, wenn ein deutscher Bischof, der Gott gibt, was Gottes ist, und seinem Volkstum gibt, was ihm gebührt, auf dem Stuhl des heiligen Adalbert in Posen sitzt. Dann werden auch deutsche Geistliche in den Ostmarten neben den polnischen wirken, und die deutsch-katholische Minderheit wird nicht länger unter dem Druck großpolnischer Geistlichkeit seufzen. Nur wenn alle Deutschen, Protestanten, Katholiken und Juden, treu zu sammenstehen, können wir der slawischen Hochslut, die uns an greift — nicht wir sie — einen sesten Damm ziehen, nurdan n können wir eine weitere Polonisicrung deutscher Gebiete ver bind e r n. Daher möchten wir der preußischen Regierung, die den verhängnisvollen Fehler gemacht hat, den Eroßpolen Stab lewski als Erzbischof anzunehmen, jetzt bei der Verwaisung des Sitzes immer wieder ins Gedächtnis rufen: Nur ein Deutscher soll Erzbischof von Posen werden! Nur ein Deutscher vermag seine deutschen Diözesanen vor Polonisicrung zu schützen, was ihn nicht hindern wird, auch den Polen ein gerechter Obcrhirt zu sein. Ein Pole wird mit dem leidenschaftlichen Nationalgesühl seines Volkes immer neben den kirchlichen nationale Ziele versol- den. Er kann nicht national gerecht denken, mag er es selbst wollen. Für ihn ist Polentum und katholische Kirche dasselbe; diese hat jenem siir die Erreichung seiner Politischen Ziele Vor spann zu leisten. Er wird den Deutschen ein Bedrücker, den Polen nicht nur ein Bischof, sondern auch ein Führer im na tionalen, politischen Kampfe sein. Die Geschichte hat es gelehrt! Vickonnt lommlou! Wieviel gibt das deutsche Volk für Alkohol aus? Das Ncichsarbcitsblatt hat in Deutschland die Ausgabe siir alkoholische Getränke aus 2830 Millionen Mark berechnet, indem es bei einem Konsum aus 2838 Millionen Mark berechnet, indem 8,52 Liter Branntwein jährlich im Durchschnitt der Jahre 1899 bis 1908 einen Preis von I Mark für den Liter Wein, von 0,30 Mark für den Liter Bier und 0,50 Mark für den Liter Brannt wein zugrunde legte. Was nun den letzteren betrifft, so ist der - N IM » Ans der LellMivgraphie des HtMtiilmms von Köpenick. Wilhelm Voigt, der Hauptmann von Köpenick hat be kanntlich die Stunden seiner unfreiwilligen Muße in d>" Unter suchungshaft dazu benützt, um in einer eingehenden Geschichte seines Lebens bis zum denkwürdigen Tage von Köpenick seinen Äiiwältxn Material zu seiner Verteidigung an die Hand zu ge ben. Aus dem vom 3. November 1908 datierten Schriftstück teil ten (vir bereits am Sonnabend einen Auszug mit. Die Auszeich nungen des „alten Verbrechers", wie ihn d»r Staatsanwalt nannte, sind von großem psychologischen Interesse, denn sie gestatten einen Blick in das Seelenleben dieses ohne Zweifel sehr begabten Menschen, dessen Schicksal nach diesen Schil derungen ergreifend wirken muß. Wir geben daher im Anschluß an die gestrigen Mitteilungen noch einen weiteren Aus zug aus der Autobiographie Wilhelm Voigts. Nachdem er für die Fälschung der Postanweisung l 0 Iahre Zuchthaus und die furchtbare Zusahstrafc von zwei Jahren (weil er die Geldstrafe von 1500 Talern nicht ausbringen konnte), abgesehen, verlebte er II Jahre der Freiheit, die glücklichsten sei nes Lebens. Er kommt viel in der Welt herum. Und nun fährt er fort: Wer will in die Fremde wandern, Der muß mit der Liebsten gehn; Es jubeln und lassen die andern Den Fremdling alleine fteh'n. Daß ich mich nicht an einen Ort binden konnte, liegt in den eigentümlichen Uerhiiltnissen unseres Betriebes. Zur Saison werden neue Leute eingestellt, die nach Ablauf der Saison wie der zuerst entlassen werden. Ein Arbeiter in meinen Jahren hat es sehr schwer, eine dauernde Stellung zu sinden. Ich habe in Erjurt und Eisenach, in Prag und Brünn, in Wien und Pest, in Jassy und Odessa, in Lodz und Riga, außer den kleinen Städten, gearbeitet, aber überall durchklang mein Leben der gleiche Ton: J.h war in der Heimat fremd geworden. Wie sollte ich in der Fremde mich heimisch sühlen! .... Im Jahre 1889 besuchte ich von Riga aus »och einmal Tilsit und nahm in Nowawes eine Stellung an. Aus der Reise tras ich einen sehr guten Freund aus Vromberg; dieser hatte sich in Obcrnik niedergelassen und ging auf Freierssllßen. Da wir früher längere Zeit zusammen gearbeitet hatten, lud er mich zu seiner Hochzeit ein, die im Mai stattsand. Ich nahm die Einladung an, und ich hatte einen wirklich schönen Tag in mei nem Leben zu verzeichnen. Die Gesellsckjast war anständig und heiter, und wir befanden uns alle in fröhlicher Stimmung. Ich sollte nun über Schneidemühl absahren, ließ mich aber von einigen Gästen dazu bereden, meinen Weg über Wracke zu nehmen. Es war ein wunderschöner Abend, und fröhlich und wohlgemut zogen wir durch den Wald dahin. Kurz vor Wracke, einem Tanzzelte gegenüber, machten wir am Rande eines Korn feldes Halt, um noch von einigen Gästen, deren Weg seitab führte, Abschied zu nehmen und von den mitgenommenen Vorräten einen letzten Schmaus zu halten. Da fiel es einem jungen Eattler- metster ein, daß neben dem Tanzzelt ein kleiner Raum «ar, in dem «in kleines Musikinstrument stand, etwa einen Fuß im Quadrat groß. Um unsere Fröhlichkeit zu steigern, holte er das Ding heraus und spielte tapfer drauf los. Wir dachten uns dabet «eiter nicht», sondern gaben uns ganz un serer frohen Stimmung hin. Nach einer halben Stunde brachen wir auf und zerstreuten uns nach allen Seiten. Statt aber das Instrument an seinen Ort zuriickzustellen, ließ der junge Mann das Ding stehen, und es war etwa 12 Uhr. Da der Zug nach Kreuz erst morgens ging, nahm ich die Einladung des Meisters, bei ihm zu nächtigen, gern an, verschlief aber den Zug, und statt morgens konnte ich erst gegen Mittag fahren. Mittlerweile hatten Passanten das Ding ausgenommen und dem Eigentümer überbracht. Während des Abends hatten uns auch mehrere Leute bei unserer Fröhlichkeit beobachtet, und wie ich so auf der Straße zum Bahnhof schlendere, tritt ein Po lizeibeamter aus mich zu und zitiert mich vor den Bürgermeister. Was soll ich weiter sagen? Da ich die Teilnehmer an der Ge sellschaft nicht nennen mochte, bürdete man mir die Sache allein aus, und ich hatte die fröhliche Stunde mit einem Jahre Gefängnis zu büßen. Während dieser Strafe lernte ich Kallenberg kennen, und da er aus einer anständigen Familie war, setzte ich meinen Verkehr mit ihm und seiner Familie auch nach unserer beider seitigen Entlassung fort. Wie es gekommen, daß er mich all mählich zu dem E i n b r u ch s diebstahl in di« Eerichtskasse zu Wrongowitz bewegen konnte, ist mir gar nicht klat. Ich habe aber nachgegeben und darf mich deshalb in keiner Weise entschuldigen. Diese» Urteil von Gnesen (zu fünfzehn Jahren Zucht haus!) sieht jeder, der einigermaßen rechtskundig ist, als zu streng an. Für mich und mein weiteres Leben war es geradezu vernichtend. Ich muß aber auf «inen Zug in meinen An schauungen aufmerksam machen, der mir selbst unerklärlich ist. Während di« meisten Leut« durch hart« Urteile »erbit-