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1872. Dienstag, den 12. November Wochenblatt für Wilsdruff, Tharandt, Rossen, Sicvmlchn und die Umgegenden. Amtsblatt für das Königliche Gerichtsamt Wilsdruff und den Gtadtrath daselbst. Bekanntmachung. Seine Königliche Majestät haben aus Anlaß des Hohen Vermählungs-Jubiläums Ihrer Königlichen Majestäten Aller- gnädigst geruht, die bis zum 10. November dieses Jahres rechtskräftig erkannten oder wegen Uneinbringlichkeit verwirkter Geldbußen auferlegten und ganz oder theilweise noch unvollstreckter Gefängniß- und Haftstrafen, welche die Dauer von acht Tagen nicht übersteigen, aus Gnaden zu erlassen. Diese Allerhöchste Entschließung wird in Gemäßheit einer Verordnung des Königlichen Justizministerium vom 7. dieses Monats hierdurch zur öffentlichen Kenntniß gebracht. Königliches Gerichtsamt Wilsdruff, dm 9. November 1872. Leonhardi. Die Hauptgebrechen der häuslichen Erziehung. (Vortrag, gehalten im Arbeiterverein zu Chemnitz.) (Schluß.) Nun kommt es freilich auch in den besser situirten Familien nicht gerade selten vor, daß entweder der Vater oder auch die Mutter sich die Erziehungspflichten möglichst vom Halse zu schaffen versucht. Da meint der Vater, Kinderzuast komme lediglich der Mutter zu, und be kümmert sich, wenn er aus dem Geschäfte oder von seinem Bureau nach Hause gekommen ist, nicht um das, was während seiner Abwe senheit unter den Kindern vorgefallcn, nicht um das, was dieselben den Abend über treiben. Er hält es für weit ersprießlicher, jeden Abend am gewohnten Spieltische im Gasthause zuzubringen, als auch nur wöchentlich einmal einen Abend im Kreise seiner Familie zu ver leben, thcilnehmcnd an den Arbeiten, wie an den Spielen seiner Kin der. Vielleicht verwundert er sich wohl, wie es kommt, daß er kein Zeichen einer wahren, herzlichen Liebe der Kinder zu ihrem Va.er er blickt, daß vielmehr ein kalter gleichgiltiger Verkehr zwischen Vater und Kind sich herausgebildet hat; aber bei dem Verwundern läßt er es auch bewenden und bedenkt nicht, daß an dieser innern Kälte der ganze Frühling des Kindcshcrzcns zu Grunde gehen wird. Und sollte auch die Wirkung des Unbekümmcrtseins nicht diesen höchsten Grad der Schädlichkeit erlangen, der Ernst der väterlichen Erziehung wird nicht ohne Einbuße am Glücke der Kinder vernachlässigt. Doce) noch weit unheilvoller muß es sein, wenn die Mutter, welche schon von der Natur zur Pflegerin und Erzieherin ihrer Kinder bestimmt ist, sich ihrer heiligsten Pflicht entzieht und in leichtsinniger Genußsucht und frivoler Eitelkeit die Stunden vertändelt, die sie der Kinderzucht widmen sollte. Die Gefallsucht bannt die eine Mutter an den Putz tisch oder an Vergnügungsorte, so daß sie verabsäumt, ihre Kinder an Reinlichkeit und Ordnung zu gewöhnen; die Neugierde und die Schwatzhaftigkeit treibt eine andere in die Kaffee- und Theekränzchen und veranlaßt sie, ihre Muttcrpflichtcn von fremden Personen aus üben zu lassen. Fehlt in den Kinderjahrcn der väterliche Einfluß, dann wird wahrscheinlich in den häufigsten Füllen der Gehorsam ausbleiben; fehlt der mütterliche Einfluß, dann die Liebe. Wenn aber beide Eltern ihre Pflicht vergessen, dann wird das Kind eine Jugend ohne Sonnenschein und Blumenduft verleben und langsam verkümmern und verderben. Auf die Erziehung durch ältere Geschwister oder gar durch Dienst boten ist, rühmliche Ausnahmen abgerechnet, wenig Hoffnung zu setzen. Dieselbe ist gar häufig mehr nachtheilig, als förderlich. Nicht jede ältere Schwester handelt an ihren jüngeren Geschwistern, wie die von Goethe mit so wunderbaren Farben geschilderte Lotte, und nicht jede Dienstmagd gleicht der von Pestalozzi verherrlichten Babeli. Acltere Geschwister zeigen den jüngeren gegenüber gar oft weder die rechte Einsicht, noch den rechten Tact und die wünschenswerthe Unparteilich keit, bei Dienstboten fehlt neben dem allen zuweilen auch vollständig der gute Wille. Der grenzenlose Leichtsinn und Unverstand, mit wel chem manche Eltern ihre Kinder unter dem Einflüsse untreuer Dienst boten verwildern und verderben lassen, kann nicht scharf genug geta delt werden. Achtet doch, ihr Eltern, einmal genau darauf, was z. Viele Dicnstmägdc in Gegenwart eurer Kinder für unzüchtige Re den führen, was sie euern Kindern sehen lassen, wozu sie dieselben anleiten! Bekümmert euch doch nur einmal darum, wie sie eure Kin der zur Häscherei, Dieberei, zum Lügen verleiten, wie sie der Kinder Phantasie entflammen, ihre Unschuld vergiften, ihren Willen schwächen! Achtet auf die Selbstbekenntnisse jugendlicher Verbrecher und ihr wer det sehen, welch bedeutende Rolle liederliche und gewissenlose Dienst leute darin spielen! Als ein fünftes Hauptgebrechen der häuslichen Erziehung erscheint uns endlich noch der Umstand, daß leider die Eltern den Kindern häufig ein böfes Beispiel geben. „Beispiele bilden", sagten bereits römische Erzieher, denn sie hatten erkannt, daß das frühzeitigste Thun der Kinder auf Nachahmung be ruht. Durch fortgesetzte Nachahmung aber bildet sich die Gewöhnung aus, und erst aus dieser erzeugt sich das freie Handeln. Die Wur zeln unsererer spätem Denknngs- und Handlungsweise greifen somit bis in die früheste Jugend zurück, und von der Beschaffenheit der Bilder und Gestalten, die sich in dieser Zeit der Seele einprägen, und von der Art der uns damals zur Nachahmung aufgestellten Vor bilder wird wesentlich auch die Eigenthümlichkeit unserer Charactcr- entwickelung abhängen. Es ist daher von der höchsten Bedeutung, daß dem Kinde frühzeitig alles Unsittliche und Seelenverderbende in Worten, Bildern und Thaten möglichst ferngehalten und nur Edles und Mustergültiges zur Nachahmung vorgeführt werde. Insbesondere sollten: die Eltern den Kindern als die wahrhaften Stellvertreter Gottes erscheinen, in denen sich die Ideen der Wahrheit, Güte und Schönheit verkörpern. Je idealer aber das Wesen der Eltern in ihrer Haltung den Kindern gegenüber sich ausprägt, um so öfter wird das Kind Gelegenheit finden, Vortrefflichem nachzueifern und gute Ge wöhnungen anzunehmen, um fo gesicherter wird also auch der Ge- sammterfolg der häuslichen Erziehung sein. Leider arbeiten aber manche Eltern viel zu wenig an ihrer eignen Vervollkommnung an der Herausbildung einer mustergiltigen Persönlichkeit und entsprechen so mit nur in geringem Maße dem Bilde, welches man von einem guten Erzieher zu entwerfen berechtigt ist. Leider bemühen sich viele nicht einmal darum, ihre sittlichen Gebrechen vor den Augen der Kinder zu verbergen. So sprechen manche Eltern die gröbsten Schimpfworts oder die rohesten Flüche vor den Ohren ihrer Kinder aus. Kein Wunder, wenn dann die Jungen zwitschern, wie die Alten gesungen. Wo Vater und Mutter die Wahrheit mißachten und Anderer Eigcn- thum nicht respectiren, da wird auch unter den Kindern giftigem Un kraute gleich Lüge und Verläumdung, Diebstahl und Betrug äufschie- ßen und die ganze Seele überwuchern. Faulheit und Liederlichkeit der Eltern vererben sich nicht selten auf mehrere Generationen. Geiz und Habsucht, an dem Erzieher wahrgenommen, verhärten auch sehr bald die Herzen der Kinder, und Thorheiten älterer Personen rufen Thorheilen bei jüngeren hervor. Kommt nun zu dem gegebenen bö sen Beispiel noch der auf Unsittliches gerichtete Befehl hinzu, dann ist das Maß des Verderbens voll und das unglückliche Kind, welches nicht Erziehern, sondern Seelenmördern in die Hände gefallen ist, in der Regel verloren. In dem Kinde, welches nun abgerichtet wor den ist, schwindet ein Zug des göttlichen Ebenbildes nach dem anderen und macht dem Gemeinen und dem in der Menschennatur versteckt liegenden Thierischen Platz. Wenn dann nicht eine wunderbare Ver-