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ilsdmffer Tageblatt Nationale Tageszeitung für die Landwirtschaft, Das »Wilsdruffer Tageblatt" erscheint an allen Werktagen nachmittags 5 Uhr. Bezugspreis: Bei Abholung in der Geschäftsstelle und den Ausgabestellen 2 RM. im Monat, bei Zustellung durch die Boten 2,30 NM., bei Postbestellung 2 RM. zuzüglich Abtrag- ...» r-e gebühr. Einzelnummern ISApsg.AllkPostanstaMn Wochenblatt für Wilsdruff u. Umgegend Postboten und uns-r-Aus. trägerund Geschäftsstellen — nehmen zu jeder Zeit Be ¬ stellungen entgegen. Im Falle höherer Gewalt, Krieg oder sonstiger Betriebsstörungen besteht kein Anspruch auf Lieferung der Zeitung oder Kürzung des Bezugspreises. — Rücksendung eingesandter Schriftstücke erfolgt nur, wenn Porto beiliegt. für Bürgertum, Beamte, Angestellte u. Arbeiter. ^7-«^ Fernsprecher: Amt Wilsdruff Nr. 6 Das Wilsdruffer Tageblatt ist das zur Veröffentlichung der amtlichen Bekanntmachungen der Amtshauptmannschaft Meisten gericht- und d°- Stadtrats zu WU-druff, deo F-rstr-ntamts Tharandt und des Finanzamt- N-ss-n b-hoM Äatt' Nr. 166. — 86. Jahrgang Telegr.-Adr.: .Amtsblatt' Wilsdruff-Dresden Postscheck: Dresden 264V Dienstag, den 19. Jult 1927 Wiener Spektakel. Man hat sie Phäakenstadt genannt, diese heitere, lebenslustige Stadt an der Donau, bis der Lebensfreude der Krieg ein rauhes Ende bereitete. Schrecklicher noch wurde es, als der sogenannte Friede von St. Germain dieses unmögliche Staatsgebilde geschaffen hatte, das sich DeutschSsterreich nennt. Auf dem schmalen Leibe sitzt wie ein Wasserkopf die Hauptstadt mit ihren zwei Millionen, die ein Drittel der Einwohnerzahl ganz Deutschösterreichs darstellen. Das schuf unsagbares Elend und damit leider auch eine immer schärfere Zuspitzung der innenpolitischen Verhältnisse. Neben jenen wirtschaftlichen Gegensatz zwischen Stadt und Land trat der politische des „roten Wien' gegen die Länder, die in der Hauptsache den Christlichsozialen Gefolgschaft leisten. Zwischen beiden tobte der Kampf um die Macht so lange, bis man sich allerdings nur für eine kurze Zeit unter äußerem Druck geeinigt hatte. Als der Druck wich, sprang das Helle Feuer wieder heraus. Erbitterter und fanatischer sind in Österreich die Gegensätze politischer Art, weil die österreichische Sozial demokratie einen sehr starken Zug ins Radikale hat, ein Zug, der eben verständlich wird durch die unsagbar schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse. Wenn eine Stadt wie Wien seit Jahren schon über eine Arbeits- losenziffer von mehr als 100 000 klagen muß, so bedeutet das verhältnismäßig eine weit höhere Zahl, als etwa Berlin sie je gehabt hat. Größer vielleicht noch als in Deutschland war während des Krieges und in der Nach kriegszeit das Elend in Deutschösterreich. Das alles ist der Hintergrund, auf dem sich die Vorgänge in Wien abgespielt haben. Unzählbar sind die Zusammenstöße zwischen den politischen Organisationen der verschiedenen Parteien gewesen; steht doch der „Repu blikanische Schutzbund' ganz auf dem Boden der Sozial demokratie und ist darum eine gewaltige Macht in den Händen seiner Führer. Er fühlt sich als eine Kampf organisation des Proletariats, erblickt in der Christlich sozialen Partei den eigentlichen Gegner und ist daher auch in schärfster Form allen Organisationen entgegen getreten, die etwa in der Mitte oder bei der „Großdeut schen Partei' sich gebildet haben. Und angesichts dieser Zuspitzungen in der öster reichischen Innenpolitik die tatsächliche Machtlosigkeit der jetzt regierenden Koalition jener beiden andern Parteien! Polizei wie Bundesheer, durch den Frieden von St. Ger main auf ein sehr geringes Maß herabgesetzt, werden durch diese innenpolitischen Gegensätze gleichfalls zerfleischt. Wieweit die Negierung Dr. Seipels auf sie überhaupt wird rechnen können, ist sehr zweifelhaft. Das weiß er, das weiß aber auch die Sozialdemokratie und sie benutzt thre Macht, um politisch sich durchzusetzen. Eine ohne jede sonstige Rücksicht betriebene arbeiter- und konsumenten freundliche Politik der sozialdemokratischen Stadtverwal tung hat die Wiener Arbeiterschaft in weitestem Maße zu unbedingten, durch dick und dünn folgenden Anhängern ihrer Führer gemacht. Dabei besitzt Dr. Seipel im Parla ment nur eine ganz geringe Mehrheit, vermag seine Koa lition überdies nur mühsam zusammenzuhalten. Geschickt haben es die sozialdemokratischen Führer ver standen, diese Revolte, die wohl von ganz anderen Ele menten angebahnt und eingeleitet war, nun in ihr Fahr wasser zu lenken und sie zu nutzen. Die wirtschaftlichen Kampfmittel des Streiks wurden für diesen Zweck ein gesetzt und aus der durchgreifenden Wirkung kann man ein Urteil darüber gewinnen, in wessen Händen in Deutsch österreich heute diewahreMacht liegt. Es ist wirklich die „Diktatur des Proletariats', von der die sozialdemo kratischen Führer auf dem letzten Parteitag in Linz als dem einzigen Mittel sprachen, die bürgerliche Regierung Seipels aus dem Sattel zu heben. Es braucht nicht erst noch gesagt zu werden, daß die jetzigen Ereignisse in Wien auch dem Anschlußgedan ken alles andere als fördernd sind. Der Terror der Straße, gleichviel von welcher Seite er erfolgt, ist in Deutschland ohnmächtig gegenüber der Macht der Regie rung und er ist deswegen jetzt, da er in Wien siegt, für uns Deutsche unverständlicher denn je. Wird doch der An schlußgedanke leider in Österreich vielerorts parteipolitisch ausgefaßt und somit zur Farce. Die Flammen und das Blut, das in den Straßen Wiens geflossen ist, erscheinen uns Deutschen als ein Zeichen dafür, daß der Staat Deutschösterreich sozusagen erst den inneren Zusammen schluß finden muß, ehe an einen Anschluß an Deutsch land gedacht werden kann. Die Brenner-Grenze für Oesterreicher gesperrt. Innsbruck, 18. Juli. Wie die österreichischen Grenz gendarmerieposten mitteilen, hat der italienische Grenzpolizei- Kommissar heute mittag eine Anordnung erlassen, wonach Oester reichern, auch wenn sie im Besitz des ordnungsmässig ausgestellten Passes und des italienischen Einreisevisums sind, die Einreise noch Italien verweigert wird. Die Einreise nach Italien wird Oesterreichern nur möglich sein auf Grund einer besonderen Ein reiseerlaubnis, die in Rom nachgesucht werden muss. Der Einreise aller übrigen Ausländer über die Brennergrenze steht dagegen nichts im Wege. Noch immer 6WiW in LestemT Seipel und die Sozialdemokralen. Abbruch des Generalstreiks. In Wien ist, wenigstens äußerlich, die Ruhe wieder- hergestellt. Der Generalstreik ist beendet, die städtischen Verkehrsmittel haben ihren Betrieb wieder ausgenom men, auch die Gasthäuser und Cafes sind geöffnet, doch besteht das Alkoholverbot weiter fort. Die Zeitungen, die am Montag mittag zum erstenmal wieder erschienen, fanden stürmischen Absatz; den Verkäufern wurden dis Exemplare förmlich von dem nachrichtenhungrigen Publi kum aus der Hand gerissen. Der Verkehrsstreik dauert allerdings aus eine Parole der sozialdemokratischen Parteileitung und der Gewerk- schastskommission hin fort. Diesen Streik wollen die Sozialdemokraten als politische Waffe gegen Bundeskanzler Dr. Seipel benutzen, um ihren Forderungen nach Umbildung der Regierung und Ent lassung des Polizeipräsidenten von Wien Nachdruck zu verleihen, über die Regierungsumbildung haben zwischen Bundeskanzler Dr. Seipel und den Sozialdemokraten wiederholt Besprechungen stattgefunden, ohne dass es in dessen zu einer Einigung gekommen wäre. Bei der Unter redung, die am Montag mittag zwischen Dr. Seipel und den Sozialdemokraten stattgcsundcn hat, brachten die sozialdemokratischen Vertreter die Beschlüsse vor, die eine Versammlung der sozialdemokratischen Vertrauens männer am Sonntag gefaßt hatte. Zu diesen Beschlüssen gehörte die Forderung nach strenger Untersuchung der Wiener Vorgänge unter Mitwirkung der Vertreter der organisierten Arbeiterschaft und strenger Bestrafung der schuldigen Polizeibeamten. Bundeskanzler Dr. Seipel soll geantwortet haben, daß es zunächst die dringendste Auf gabe sei, die Wiederkehr der Ereignisse und Vorkomm nisse der letzten Tage zu vermeiden. Außerdem vertrat der Bundeskanzler die Auffassung, daß eS ausschließlich dem Parlament zustehe, Vernehmungen und Unter- suchungen zu beschließen. Die Sozialdemokraten müßten daher dort ihre Anträge stellen. Feierlich protestierte Dr. Seipel dagegen, daß die Polizei und ihre Organe als die Schuldigen hingestellt werden. Zunächst müsse der Verkehrs streik vollständig abgebrochen werden, nm dem Nationalrat die Möglichkeit zu geben, daß er in voller Freiheit zusammentretcn könne. Im Zusammenhang hiermit sei noch erwähnt, daß sich auch Bundeskanzler Dr. Seipel in einem Aufruf an die Bevölkerung gewandt hat, in dem er alle Wiener und Wienerinnen, die ihre Vaterstadt und die Ordnung im Staate lieben, auffordert, die Behörden und deren Organe, namentlich aber die Sicherheitswachen und Wehrmachtsabteilungen bei der Wiederherstellung der Ruhe und Ordnung mit allen Kräften zu unterstützen. Dieser Aufruf betont auch, im Gegensatz zu dem schon vor einigen Tagen erschienenen Ausruf der Sozialdemokraten, daß die Sicherheitswachen mit Steinen beworfen und be schossen wurden, bevor sie von ihren Waffen gegen di« Menge Gebrauch gemacht hatten. Aus diesem Aufruf geht ferner herüvr, daß der ganze Justizpalast mit seinem gesamten Aktenbestand, das ganze Archiv sowi« die reichhaltige Bibliothek dem Brande zum Opfer gefallen sind. Zu den beklagenswerten materiellen Schäden tritt, so wird schließlich betont, die schwere Be- einträchtigung des Ansehens und guten Rufes der bisher in der ganzen Welt als friedliebend betrachteten Wiener Bevölkerung. . * Bildung einer sozialistischen GemeindeschntzVache. 252 Unruhestifter verhaftet. Von sozialdemokratischer Seite in Wien ist eine 200k Mann starke Gemeindeschutzwache ins Leben gerufen wor den, deren Mannschaften lediglich aus den Reihen des sozialistischen Republikanischen Schutzbundes entnommen worden sind. Die Bildung dieser Gemeindeschutzwachc hat in der nichtsozialistischen Bevölkerung starke Beun ruhigung hervorgerufen, weil man in diesen Kreisen darin einen Versuch sieht, auf Umwegen zur Bewaff nung des Republikanischen Schutzbundes zu gelangen. Andererseits hat die österreichische Regierung das An gebot der rechtsstehenden Frontkämpfervereinigung, deren Formationen aus lOOOOOMann geschätzt werden, sich ihr zur Verfügung zu stellen, abgelehnt. Die Beunruhigung hat auch auf die Polizei übergegriffen. Deshalb hat dir Polizei ihren Organen zur Kenntnis gebracht, daß der ge setzmäßige Aufgabenkreis der Bundcspolizei in keiner Weise beeinträchtigt ist. Von Negierungsseite wird daraus aufmerksam ge macht, daß die Gemeindeschutzwache ohne Zustim mung der Regierung aufgestellt worden sei. Die Errichtung erfolgte durch den Bürgermeister Seitz. Wenn in sozialistischen Kreisen von einem Einverständnis mit der Polizei die Rede ist, so bedeutet dies lediglich, daß die Aufstellung der Polizei zur Kenntnis gebracht und ver fügt wurde, daß die Gemeindeschutzwache bei etwaigen Vorkommnissen nicht etwa selbständig vorgehen kann, sondern sich an die Polizei wenden soll, über die Ver fassungsmäßigkeit dieser Einrichtung, so wird von Re- gierungsseite weiter betont, wird später zu sprechen sein. Allerdings sei es eine Tatsache, daß nach der Verfassung den Gemeinden die Haltung einer Gemeindepolizei zusteht. Bisher sind in Wien 252 Verhaftungen vorgenommen worden; die meisten der Verhafteten sind der Widersetzlichkeit an geklagt. Ein Teil aber steht unter der Anklage der Plünderung oder schwerer Körperverletzung. Vier Brandleger wur- den aus frischer Tat festgenommen. Zwei Aufrührer wurden festgcnommen, als sie aus Bahnpolizisten schossen. Nach Aussage eines höheren Polizeibeamten befinden sich unter den Verhafteten viele Kommunisten, aber auch Sozialdemokraten. Unter den agitatorisch tätigen Kommunisten soll sich eine größere Anzahl russischer und ungarischer Emigranten befin den. Auch der deutsche Kommunistenführcr Pieck, der sich im Flugzeug nach Wien begeben hatte, soll verhaftet wor- den sein. Die Beisetzung der Opfer findet am Mittwoch aus dem Zentralfriedhof statt. Die Toten werden auf einem gemein samen Platz, aber in Einzelgräbern beerdigt. Die Kosten trägt die Stadt Wien. An dem Begräbnis nehmen neben den Angehörigen teil die Beauftragten und Funktionäre der So zialistischen Partei, Delegationen der Betriebsräte und der Ortsgruppen des Republikanischen Schutzbundes. In den Wiener Betrieben wird während der Beisetzung eine Viertel stunde lang Arbeitsruhe herrschen. Tirol gegen Wien. Besetzung der Bahnhöfe durch Militär. Die Tiroler Landesregierung hat in der Nacht zum Montag sämtliche Bahnhöfe in ganz Tirol durch Militär, Gendarmerie und die als Notpolizei legalisierte Heimat- wehr besetzen lassen, überall sind die von den Eisen bahnern eingesetzten Streikleitungen und die sozialdemo kratischen Ordnungsmannschaften der Eisenbahner, die mit roten Armbinden versehen die Bahnhöfe abgesperrt hielten, ohne Widerstand zu leisten, abgezogen. Auch sämt liche Eisenbahner haben die Bahnhöfe und andere Bahn objekte verlassen. Es ist nirgends zu einer Gewaltanwen dung gekommen. Die Bundesbahndirektion Innsbruck hat an die Bundesbahnangestellten einen Dienstbefehl erlassen, in welchem diese aufgefordert werden, den Dienst sofort ordnungsgemäß wieder aufzunehmen. Jede Dienstver weigerung würde sür den Betreffenden von schweren Folgen begleitet sein. Der Zugverkehr wird nach Maß gabe des Möglichen ausgenommen. Wie die Innsbrucker Blätter melden, ist die Mittenwaldbahn vorläufig ohne elektrischen Strom. Man vermutet einen Sabotageakt. Auch knapp vor dem Einmarsch der Besatzung wurde auf dem Bahnhof in Innsbruck der Telegraphenapparat un brauchbar gemacht. Wie weiter gemeldet wird, haben die Heimwehren in Steiermark ein Ultimatum gestellt, den Verkehr sofort wieder aufzunehmen. Sie drohten andererseits, nach Graz zu marschieren. In Zell am See hat die Heimwehr das Postamt besetzt, ist aber nach einer Stunde wieder abgezogen. In Innsbruck hat die Heimwehr die Eisen bahner zur Wiederaufnahme des Verkehrs gezwungen. Der Landeshauptmann hat die Hofburg in Innsbruck mit Maschinengewehren besetzen lassen. In Kärnten haben die sozialdemokratischen Arbeiter die Heimwehren ent waffnet. Bundeskanzler Geipel belästigt. In Deutschland sind Gerüchte über ein Attentat auf Bundeskanzler Seipel im Umlauf, die jedoch nicht den Tatsachen entsprechen. Offenbar gehen sie darauf zurück, daß Bundeskanzler Seipel in seinem Auto vonjungen Burschen belästigt wurde, die auf das Trittbrett sprangen. Der Detektiv, der neben dem Führer saß, er kannte die Gefahr und ließ schnell fahren. Dadurch wurden die jungen Burschen vom Wagen geschleudert. Beisetzung der Wiener Opfer. Wien. Es ist anzunehmen, dass wegen der von den Kom munisten ausgegebenen Generalstreikparole, hie Beerdigung der am Freitag Gefallenen ohne grosses Aufsehen vor sich gehen wirb. Die Beerdigung wird in aller Stille erfolgen. Es wird kein Lei chenzug von der Stadt ausgehen. Sammelpunkt ist vielmehr auf dem weit ausserhalb Wiens gelegenen Zentralfriedhof selbst. An der Leichenfeier werben nur die Angehörigen der Getöteten sowie verschiedene Abordnungen der Sozialdemokratischen Partei und der GewerkschaftsorgMisationen teilnehmen. Wieder Telefonverkehr Wien—Berlin Berlin, 19. Juli. Nachdem bereits in den späten Abend stunden der Tel-graphenvettehr Wien—Berlin wieder ausgenom men worden war, konnten gegen Mitternacht auch wieder die ersten Telephongespräche mit Wien geführt werden, Ueber die Wiederaufnahme des direkten Eisenbahnverkehrs mit Oesterreich lag bis nach Mitternacht bei der Berliner Relchsbahndirektwn noch leine Meldung vor.