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Mittwoch, 22. Jyfi M8. Mi I»ir S8V0 nUitti Ikmitiil «r. 168 Dritter Jahrgang stuer Tageblatt und Anzeiger für das Erzgebirge mit der wöchentlichen Unterhaltungsbeilage: Illustriertes Sonntagsblatt. Vies« rr«nrnre* »rnrfatzt 6 Seit«« und Die ch i n es i s ch e Reg i cr ung hat der deutschen Regierung initgetcilt, daß der Schutz der türkischen Unter tanen in China dem Deutschen Reiche nicht übertragen werden könne. Bei einem Wirbelsturrm sind auf dem Amur gegen 90 Personen ums Leben gekommen. (S. N. a. a. Welt.) Der englische Admiral Fitzgerald hat in einer Rede einen Wasfengang zwischen England und Deutsch land als möglich bezeichnet. In Täbris beherrschen die Revolutionäre die Situa tion. (S. pol Tgsch.) Die Hinrichtung der Grete Beier findet nunmehr be stimmt morgen früh statt. (S. Kgrch. Schf.) Staatssekretär Dernburg ist gcstern in Ke e t m a n s h o o p e i n g e t r o f f e n. Druck und Verlag Gebrüder Beuthner (Inh.: Paul Beuthner) in Aue. Die Solinger Bank, Akt.-Ges., in Solingen ist geschlossen morden. Soweit sich übersehen läßt, sind »/ des Aktien kapitals von 3,6 Millionen Mark verloren. Vcrantwortlicher Redakteur: Friz Arn hold Für di» Inserat« verantwortlich: Matter Araue beide in Aue. Sprechstunde der Redaktion mit Ausnahme der Sonntage nachmittags von L Uhr. — Telegramm-Adreffe: Tageblatt Aue. — Fernsprecher 202 Für unverlangt eingesandte Manuskripte kann Gewähr nicht geleistet werden. justizamt eine zweite Fachkommission zusammen, die ihrerseits mit der Reform der deutschen Strafprozetzordnung betraut wurde. Die Strafrechtskommission hat vor kurzem ihre Aufgabe ge löst, doch ist die Vorlage eines neuen Strafprozeß buches, mit deren Ausarbeitung sich jetzt vorerst das Reichs justizamt beschäftigt, nach den Erklärungen des Staatssekretärs Dr. Nieberding (23. November 1907) wohl kaum vor der Wintersession l909/1V zu erwarten. Dagegen wird die neue deutsche Strafprozeßordnung bereits in der kom menden Reichstagssession zur Beratung gelangen. Auch dieses Werk war schwierig genug. Der Vorentwurf, den die Kom mission im Jahre 1995 zustande gebracht hatte, entsprach den auf ihn gesetzten Erwartungen so wenig, daß die Notwendigkeit seiner Umarbeitung allgemein anerkannt wurde. Nachdem die Umarbeitung im Reichsjustizamt vorgenommen war, konnte Dr. Nieberding schon am 12. März 1907 dem Reichstage die allge meine Mitteilung über die Richtung des Entwurfes machen, wenn er sich auch dagegen verwahrte, die Einzelheiten des Ent- wu:s:s ?ber preiszugeben, als b's dieser vie Genehmigung der größeren Justizverwaltung erhalten hätte. Trotzdem war die Köln. Ztg. Anfang Juli vorigen Jahres in der Lage, diesen Entwurf in extenso mitzuteilen. Während sich aber die juristische Fachliteratur eifrig mit ihm beschäftigt«, hat ihm die übrige Presse schon deshalb keine besondere Beach tung geschenkt, weil anzunehmen war, Laß er noch größeren Veränderungen innerhalb der bundesstaatlichen Justizverwal tungen unterliegen würd«, bevor er in endgültiger Form dem Bundesrat zuging. Diese endgültige Form steht nun fest. Wird sie vom Bundesrat gebilligt, so dürfte die neue Strafprozeßordnung und die umfangreiche Novelle zum Eerichts- verfassungsgesetz dem Reichstage in der Gestalt zugehen, über die die Köln. Ztg. schon jetzt allerlei Jnterssantes mitzuteilen weiß. Das Wichtigste an diesen Mitteilungen ist unstreitig der Teil, der von der Neuorganisation der Strafgerichte handelt. Hier soll in Zukunft der Amtsrichter als Einzel lich ter, also ohne die bisherige Zuziehung von zwei Schöffen, über die Vergehen urteilen, während die leichteren Straftaten dem Amtsgericht als kollegialem Gerichtshof, und zwar in seiner bisherigen Zusammensetzung von einem Richter und zwei Schöffen unterstellt werden. Für diejenigen schweren Straftaten, die nicht vor das Schwurgericht gelangen, sollen die Strafkammern der Landgerichte zuständig bleiben, aber mit dem Unterschiede, daß sie sich nicht wie bisher aus 5 Richtern, sondern aus zwei Richtern und drei Schöffen zu sammensetzen. Die Schwurgerichte dagegen behalten im wesent lichen ihre bisherige Gestalt und Zuständigkeit. Hinsichtlich der Verufsin stanzen bestimmt der Ent wurf, daß über die Entscheidungen des amtsgerichtslichen Ein zelrichters die landgerichtliche Strafkammer in der Besetzung von drei Richtern urteilt, die ebenso über die Entscheidungen des kollegialen Amtsgerichts, wie bisher, zuständig bleibt. Gegen die Urteile der gemischten Strafkammer aber geht die B e- rufung «n einen aus 5 Richtern gebildeten Strafsenat, der je nach den örtlichen Verhältnissen beim Landgericht oder, in Aus nahmefällen, beim Oberlandsgericht gebildet, und mit dessen Leitung der Präsident des Landgerichts- oder Oberlandes- gerichtsbezirks betraut wird. Die Revision gegen alle Berufs urteile geht nach wie vor an das Reichsgericht. Eine besondere Behandlung aber sollen jugendliche (12 bis 18 Jahre) erfahren, deren Straftaten sämtlich der Aburteilung durch die Kollegials-Amtsgerichte unterliegen sollen. Und zwar sollen hier nicht nur eigene Jugendgerichtshöfe durch Besetzung mit besonders dafür geeigneten Richtern und Schöffen gebildet werden, sondern es soll logar das Gericht die Befugnis erhalten, von einer straf gerichtlichen Verfolgung in Einzelfällen überhaupt abzusehen und die Ahndung des Vergehens oder Verbrechens dem Vor mundschaftsgerichte zu überlassen. Schließlich wird in dem Entwurf den S chö s f e n u nd G e sch w 0 r e n e n der schon so lange geforderte Anspruch auf Tagegelder und Er stattung der Reisekosten zugebilligt. Durch die Schaffung der einzelrichterlichen Instanz und durch die nur dadurch mögliche Kompetenzerweiterung der Schöffen gerichte und Strafkammern findet also eine Verschiebung der ganzen Rechtspflege nach der Richtung der unteren und mittleren Instanzen statt, die zu einer Entlastung der Straf kammern i'nd Schwurgerichte und damit zu einer Beickleu- nigung des straftrechtlichen Verfahrens führen mutz. Dann aber wird auch der Forderung nach einer grötzerenBerück- sichtigung des Laienelements durch die neu« Zusam mensetzung der Strafkammern Rechnung getragen und dadurch das Volkstümliche unserer Rechtsprechung unstreitig erhöht. Zwar soll sich die Hinzuziehung des Laienelements nicht auf die Verufsinstanzen ausdehnen, wo der Richter nach wie vor aus schlaggebend bleibt, aber dieser Fehler wird reichlich dadurch aus geglichen, daß nunmehr die Berufung gegen die Strafkammer urteile «ingeführt wird, die Schwurgerichte in der bisherigen Form erhalten bleiben und durch Errichtung von Jugendge richtshöfen, sowie Zubilligung der Tagegelder und Reisekosten an Geschworene und Schöffen, eine Anzahl von Forderungen erfüllt werden, von denen unsere gesamte Strafprozeßpraxis nur Vorteil haben kann. Möglich, daß der Reichstag die Institution des Amtsrichters als Einzelrichter, weil sie gar zu sehr an den alten Polizeirichter erinnert, mißbilligt und die Hinzuziehung dejs Laienelements auch für die Berufsinstanzen fordert. Hinsichtlich der neuen Strafprozeßordnung sind die Veröffentlichungen der Köln. Ztg. wohl noch nicht vollständig. Aber immerhin mag anerkannt werden, daß auch hier durch Einschränkung der Untersuchungshaft, durch Be seitigung des Zeugniszwanges d«r Presse, durch Be schränkung der Zeugnispflicht und der Vereidigung, Lurch Ausdehnung des Strafbefehlverfahrens und des Aus schlusses der Oeffentlichkeit, sowie durch Erweiterung der Rechte der Verteidigung im Vorverfahren, mehr oder minder große Fortschritte gegen früher zu kanstatieren find. Dennoch wird man gut tun, mit seinem Urteil noch solange zurückzuhalten, bis aus den ja in Kürze zu erwartenden amtlichen Veröffent lichungen ersichtlich wird, wie weit diese Reformen gehen sollen. Decken sie sich mit den Mitteilungen der Köln. Ztg. aus dem Juli vorigen Jahres, so wird man ihnen im allgemeinen zu stimmen können. Nur die Neuordnung des Zeugniszwanges für die Presse halten wir für völlig ungenügend. Sollen doch danach die Redakteure nur dann von der Zeugnispflicht entbunden wer den, wenn sie selbst auf Grund ihrer Zeugnisaussagen bestraft werden könnten. Das Wichtigste vom Tage. König Friedrich August weilte gestern in Bergen setzte mittags die Reise nach Gudwangen fort. Die Strasprozestreform. Hand in Hand mit den Bestrebungen, die auf eine Reform der Zivilprozeßordnung hinzielen, und denen das Reichsjustiz amt im Oktober vorigen Jahres durch einen Eesetzentwurs Rech nung trug, ohne daß es gelang, diesen in der abgelaufenen Ses sion des Reichstages zu verabschieden, gehen die Forderungen, di« man schon seit den achtziger Jahren an eine moderne Ge staltung des deutschen Strafrechts, der Strafprozeß ordnung und des Eerichtsverfassungsgesetzes er hebt. Nur schwer entschloß sich die Reichsregierung, an eine Aen- derung dieser aus dem Jahre 1870 bezw. 1877 stammenden Ge setze heranzutreten. Nicht etwa, daß sie sie für durchaus gut und Weckdienlich hielt, aber es handelte sich hier um ein unge mein weitschichtiges Gebiet, dessen Neuordnung nicht nur eine große Anzahl von Vorarbeiten nötig machte, sondern auch mit erheblichen finanziellen Opfern verbunden war. Dennoch berief das Reichsjustizamt im Jahre 1902 eine Fachkommission ein, welche die Aufgabe hatte, eine vergleichende Darstellung des gesamten deutschen Strafrechts mit dem ausländischen zu ver fassen, die die Grundlage abgeben sollte für die Kodifikation eines deutschen Strafrechts. Ein Jahr darauf trat im Reichs ' '-"Mm Bezugspreis: Durch unsere Boten frei ins Haus monatlich so psg. Bei -er Geschäftsstelle abgeholt monatlich 40-psg. und wöchentlich >0 Psg. — Bei -er Post bestellt und selbst abgeholt vierteljährlich I.su Mk. — Durch -en Briefträger frei ins kaus vierteljährlich ,.92 Mk. — Einzelne Nummer 10 pfg. — Deutscher Postzeitungs katalog. — Erscheint täglich in den Mittagsstunden, mit Ausnahme von Sonn- und Feiertagen. Am Strande. Novelette von A. Hinze. Leuchtend lag die Morgensonne über Meer und Strand ausgegossen. Ein starker Südwestwind trieb die Wellen vom Gestade fort, der weiten Fläche zu. Sich überschlagend im Wogen lauf, erschienen sie im Sonnenlicht wie hinfließendes Gold, von weißem Saum umkrönt, umschwebt vom Flügelschlag silbergrauer Möoen. Auf den Dünen reihte sich Strandkorb an Strandkorb; Plaudern und Lachen scholl heraus, hinein in das Plätschern der Wellen, das leise Pfeifen des Windes — der größte Teil der Badegäste hatte sich hier eingefunden, das Meerpanorama zu genießen. Dort, wo die Düne in eine Zungenspitze ausläuft, stand einsam eine junge, schlanke Frauengestalt, den Blick aufs Meer gerichtet. Das Wesenlose, das in dem Blick lag, verriet in des, daß ihre Seele nicht das Bild erfaßte, das sich vor ihr auf tat. Etwa fünfzig Schritte entfernt, tummelten sich auf dem weißen Dünensand« ein» Schar Kinder, Knaben und Mäo- chen; die Hellen Matrosenkittel der Buben blähten sich im Winde, der den Mädchen die Haare zauste. Das Helle Stimmchen des jüngsten der Jungen, eines kaum fünfjährigen Knirpses, über tönte rechthaberisch die kleine Schar. Bis an das Ohr der Dame auf der Dünenspitze klang das Stimmchen — und sie war doch davor geflohen, vor dem Besitzer der Hellen Stimme, vor dem kleinen fünfjährigen Knirps. Aus der Heimat, bis hierher in das Seebad, doch das Schicksal hatte ihn ihr nachgesandt — kaum acht Tage war sie mit der Mutter hier, als im Fremden buch gestanden hatte: Baron von Meerscheid, nebst Kind und Bedienung. Er war der Vater des Jungen dort, mit dem befehlhabe- rischen Stimmchen, und ihr absichtlich gefolgt und sie liebte den Werber, hatte ihn schon geliebt, «he er noch Weib und Kind besessen hatte. Da war die andere gekommen — ein Götter weib, hatten die Kritiker sie genannt, die über die große Künst lerin berichteten. Das achtzehnjährige, schüchterne Mädchen hatte dem Stern am Kunsthimmel weichen müssen — in seinem Herzen, und jene hatte den Platz ausgefüllt als sein Weib, — eine kurze Spanne Zeit, dann hatte der Tod den Traum junger Leidenschaft, mit rascher Hand zerstört, — das kleine Leben war der jungen Mutter zu schwer gewesen. Ob sie noch heute in deni Herzen des vereinsamten Gatten weiterlebte? Fünf Jahre — eine lange Zeit, lang genug, um das, was lebendig im Herzen gewohnt hat, in ein Traumbild zu wandeln. Fünf Jahre — nicht lang genug, um schon vergessen zu haben, daß es vor dieser Zeit eine Zeit gegeben, in der ein anderes Bild in seinem Herzen gelebt hatte und daß das Bild kein Traumbild jetzt — daß es ein junges, warmblütiges Leben war. Wie viele vor ihr, wie viele nach ihr, werden noch den Kamsf bestehen, sich hinein- zufinden, die Nachfolgerin einer heißgeliebten Gattin zu sesn — die zweite Stelle einzunehmen im Herzen ihres Mannes. Marga Bruhn dachte mit ihren fünfundzwanzig Jahren schon klar genug, um hiermit fertig zu werden, um zu wissen, daß auch die zweite Frau sich einen Platz im Herzen des Gatten sichern kann. Ob auch im Herzen des Kindes — dieses Kindcs? Ein wunder Punkt — für sie, die nicht in verletzter Eigenliebe sich abgewandt hatte von dem Manne, der einst schon sie hätte haben können und eine andere ihr vorgezogen hatte und nun doch wiederkam. Er hatte ja nicht brüsk gehandelt damals; die Fäden zwischen ihm und ihr waren ja noch zart gewesen, so zart, daß nur ihr liebendes Gemüt sie empfunden hatte. Würde sie das Kind, seinen Kna ben, ertragen können, den Jungen mit dem rechthaberischen Stimmchen, der in ihr nicht einmal die Autorität der Erwach senen respektierte? — Darf ich bitten, meinen Jungen mit Liebe aufzunehmen, gnädiges Fräulein? — Damit hatte Baron von Meerscheid ihr den Knaben zugeführt. Sie hatte kleine Ge schwister nicht besessen, nie Gelegenheit gehabt, mit Kindern zu verkehren, aber ihr Herz flog ihnen entgegen, wo sie sie sah. Und die Stimme, die um Liebei bat, hatte fremd geklungen, rauh, und sie hatte gewußt, warum — alle Skrupel vergessend, hatte sie dem Knaben herzgewinnend die Hand hingestreckt: Schlag ein, Guido, wir zwei wollen uns lieb haben wie gute Kameraden, gelt? Ein feindlicher Blick aus den blauen Kinderaugen; blitz geschwind waren die Händchen zum Rücken gefahren: Ich will aber nicht! Ein ungezogenes Wort aus Kindermund — was weiter? Wie damals färbte sich bei der Erinnerung daran Marga Bruhns Wangen dunkel, — «in ungezogenes Wort, darum ein anderes nicht ausgesprochen ward. — Sie war davor geflohen, vor dem unausgesprochenen Wort, bis hierher, vor dem Zwiespalt ihrer Gefühle für Vater und Kind. Ich will aber nicht! Dies Wort zu brechen, würde ihre Aufgabe sein in ihrer jungen Ehe; täglich ein neuer Kampf, wo sie heiß ne,h jungem Glück verlangte, täglich ein Ringen um die Liebe des Kindes einer anderen. Niemals! In das heftig heroorgestoßene Wort hinein klang der rauhe Schrei einer Möve, die hart an der Sinnenden vor bei, sich über die Flut schwenkte. Der Wind hatte sich verstärkt; die silbergrauen Disteln am Strande erzitterten; tiefgrüne und blauschwarze Schatten begannen über das Wasser hinzulaufen, dazwischen Blitzlichter der Sonne, die bald hervortrat, bald hinter aufziehendem Gewölk verschwand. Der Trotz der Bade gäste verlieh die Strandkörbe; die Frühstückszeit lockte st« in die Strandhalle; immer einsamer ward es um die auf der Dünen spitze Verharrende. Nur das Tollen der Kinder hallte noch her über; die Stimm« bald näher, bald entfernter. Ein feiner Staub von Dünensand wirbelte, vom Wind gehoben, der Meeresflache zu. Gleichzeitig schob ein winziges Schiffchen, «in Kinderspiel, zeug, an langem Bindfaden vom Ufer her, auf die Flut hinaus,