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Wochenblatt für Wilsdruff, Tharandt, Nossen, Siebenlehn und die Umgegenden. Amtsölatt fiir die König!. Amtshauptmannschaft zu Meißen, das König!. Gerichtsamt und den Stadtrath zu Wilsdruff. Dieses Blatt erscheint wöchentlich zwei mal, Dienstags u. Freitags und kostet pro Quartal 1 Mark.— Jnseratenannahme bis Montag rcsp. Donnerstag Mittags 12 Uhr. Nr. 98. Dienstag, den 12. December 1876^ Im Besitze eines hier inhaftirten Mannes hat sich ein unten snb D näher beschriebener Kinderwagen befunden, dessen redlicher Erwerb Seiten desselben in Zweifel zu ziehen gewesen ist. Dieser Kinderwagen steht hier an Gerichtsstelle zu Jedermanns Ansicht bereit und wird der etwaige Eigenthümer desselben, oder wer sonst Besitzrechte an solchem nachzuweisen, bez. Ausschluß darüber zu geben vermag, wem, wann und wo der Kinderwagen abhanden gekommen, hiermit aufgefordert, ungesäumt bei unterzeichnetem Gerichtsamte sich zu melden und eingehende Anzeige anher zu erstatten. König!. Gerichtsamt Wilsdruff, am 11. December 1876. vr. Gangloff. D Der Kinderwagen ist ziemlich groß, halbverdeckt mit grünem Schirm, gewöhnlicher, an der Vorderseite des Wagens angebrachter Deichsel mit Handhaben zum Ziehen, braun angestrichen, durch die Mitte des Korbes geht ein Streifen Helles Weidengeflecht. Im Innern des Wagens liegt ein längliches Kissen von grauer Leinwand mit dunkelblauen Streifen. Tagesgeschichte. Wilsdruff, 10. December 1876. In einer gestern Abend im geräumigen Saale des Gasthofs zum Löwen hier abgehaltenen Wahl-Versammlung, welche von der socialdemocratischen Partei veranstaltet war, referirte der focialde- mocratische Redacteur Kaiser aus Dresden in 1'Zstündiger Rede in geschickter und etwas maßvoller Weise über die Ziele der Soci- aldemocratie, wobei die im Reichstage herrschende liberale Partei und die von derselben unterstützte gegenwärtige Regierungsweise, ganz besonders aber die von derselben befolgte wirthschaftliche Politik scharf getadelt wurde. Noch ärger griff der genannte Redner die Partei unseres seit herigen Vertreters im Reichstage, des Herrn Hofrath Ackermann, die deutsche Reichspartei, an, welche er nach einem Ausspruche Wind- horst's die Drehscheibe, oder wie man sie sonst bezeichnete, die Bot- schafterfraction nannte. Zur Entgegnung ergriff das Wort der hiesige Kaufmann Herr Engelmann, indem derselbe Punkt für Punkt die Angriffe auf die gegenwärtige Regierungspolitik und auf unsere wirthschaftliche Gesetz gebung zu widerlegen suchte und die vorgekommenen Jrrthümer und Verdrehungen richtig stellte. Die Letzteren betrafen besonders die gegenwärtige Geschäftskrisis, das Bonk- und Münzgesetz, den Cultur- kampf, die Einkommensteuer, das Preßgesetz und das Versammlungs recht. Da Redacteur Kaiser für nächsten Sonnabend das Erscheinen des für hiesigen Reichstagswahlkreis ausgestellten socialdemocratischen Candidaten, Sattler Auer aus Hamburg, angekündigt hatte, er folgte nach einigen Replieirungen der genannten beidrn Redner und nach einem Schlußworte des zum Vorsitzenden erwählten Redacteur des hiesigen Wochenblattes , worin derselbe sich selbst als einen mehr als zwanzigjährigen Arbeitnehmer bezeichnend, der sich nur mülffam zu seiner gegenwärtigen Stellung als Arbeitgeber emporgerungen habe, alle Parteien zur Mäßigung ermahnte und ganz besonders et waigen anwesenden Anhängern der Socialdemocratie an das Herz legte, doch ja stets die gesunde Vernunft walten zu lassen, gegen 11 Uhr der Schluß der Versammlung. Die Versammlung war trotz der sehr ungünstigen Witterung aus der Stadt und der Umgegend sehr zahlreich besucht. Die Herren Socialdemocraten hatten übrigens wie bereits vor 3 Jahren ihren Candidaten für den Vorsitz in der Versammlung diesmal in der Person eines Herrn Isaak mitgebracht, den jedoch die Versammlung nicht acceptirte, sondern den Redacteur Berger und Herrn Kaufmann Engelmann zu Vorsitzenden wählte. Im Schlußworte des Vorsitzenden war auch das baldige Auf treten des seitherigen Vertreters im Reichstage hier in Aussicht ge stellt worden. Der angesehenste Führer der deutschen Socialdemocratie, Herr Bebel, hat so eben unter dem Titel „Die parlamentarische Thätigkeit des deutschen Reichstags und der Landtage von 1874—1876" eine Schrift erscheinen lassen, welche zum Zwecke der gegenwärtigen Wahlbewegung die Forderungen und Bestrebungen seiner Partei in. drastischer Weise zusammenfaßt. Voran steht die Abschaffung des stehenden Heeres und die Einführung einer Volkswehr. Bezüglich der Steuerreform erstrebt die Sociatdcmocratie „die gänzliche Abschaffung des gegenwärtigen Steuersystems und seiner Ersetzung durch die Einführung einer Einkommen- und Vermögenssteuer zur Deckung aller Staats- und Communalbedürfnisse, soweit diese nicht aus den eigenen Vermvgenseinnahmen gedeckt werden. Neben dieser Umgestaltung der Ein- kommenverhültnisss des Staats will sie auch eine totale Umgestaltung des Ausgabe budgets vornehmen, Beseitigung aller unproduktiven Ausgaben, wie für das stehende Heer und für eine vielfach überflüssige und schädliche und in ihren höheren Spitzen zu gut bezahlte Beamtenhierarchie. Ferner durch Beseitigung aller Staatsinstitutionen, welche die freie Entfaltung der Volkskräfte hindern. Totale Umgestaltung und Vereinfachung der Rechtspflege, Beseitigung der politischen Polizei, Abschaffung des Culiusbudgets u. s. w." Der Socialismus ist „der entschiedenste Gegner der Kirche und der Geistlichkeit." Er „verlangt nicht gewaltsame Unterdrückung oder Abschaffung der Religion — er weiß, daß etwas aus natürlichen Bedingungen Gewordenes sich mit Gewalt nicht abschaffen läßt — sondern Trennung der Religion, resp. der Kirche vom Staate und von der Commune, und Trennung der Kirche von der Schule, mit einem Wort: die Abschaffung des öffentlichen Cultusbudgets und seine Verwen dung für Vildungs- und Culturzwecke." Der Socialismus ist ferner „die größte Ausdehnung der politischen Rechte auf alle Staatsbürger vom 20. Lebensjahre an. Er stellt als Grundsatz an die Spitze, daß das Volk sein eigener Souverän ist, daß Alles, was in Bezug auf Staatsgewalt und Regierung geschieht, nicht ohne den Willen, des Volkes geschehen darf. Das Volk soll sich selbst die Gesetze geben und die sie ausführen, sollen seine Diener sein, die es beliebig absetzen kann, wenn sie seinem Vertrauen nicht entsprechen. Da erfahrungsmäßig m den Vertretungskörpern sehr rasch das Cliquewesen und der Eigendünkel der Vertreter sich entwickeln, die dann nach persönlichen Rücksichten handeln und glauben, die allein Weisen zu sein — eine Art von höheren Wesen, auf deren Aussprüche das Volk wie auf ein Orakel achten soll — so verlangt der Socialismus, daß die Vertretungskörper nichts anders als zeitweilig zusammentretende leitende Ausschüsse sind, welche die Gesetze vorzube- rathen haben, über die dann das ganze Volk nach Gutdünken entscheidet. Gleich zeitig soll aber auch jeder Staatsbürger das Recht haben, ohne die Initiative der gewählten Vertreter abwarten zu müssen, selbständige Gesetzesvorschläge machen zu können, über die das Volk entscheidet, wenn sie aus seiner Mitte die nöthige Unter stützung gefunden haben. Der Socialismus will also die Einführung des allge meinen gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts für die Wahlen zu allen Ver tretungskörpern, für alle über 20 Jahre alten Staatsbürger durch die direkte Ge setzgebung durch das Volk ergänzen und vervollständigen, und soll das Volk nament- auch selbst entscheiden, ob es Krieg oder Frieden haben will und hierin nicht von dem guten oder bösen Willen Einzelner abhängen." Endlich fordert der Socialis mus „die Aufhebung des Privatbesitzes an den Arbeitsmitteln in jeder Form", „er fordert das Eigenthum für Alle, weil er alle Produktionsinstrumente und die Ar beitsmittel, also auch den Grund und Boden, zum Gemeineigenthum der Ge sellschaft machen will. Jeder soll Eigenthümer sein, aber Keiner auf Kosten des Adern." So nach dem kompetentesten Zeugniß die Forderungen der Socialdemocratie. Für das in kurzer Zeit an die Wahlurne tretende Volk müssen obige Thatsachen zwingende Gründe sein, um wahrhaft liberalen Männern, welche eine Garantie für wirksame Bekämpfung der staats feindlichen Socialdemocratie geben, fein Vertrauen zu schenken, und zwar bedarf es der größten Anstrengungen, der Aufbietung aller Kräfte, um sofort bei der Wahl einen reichstreuen Candidaten zum Siege zu verhelfen, um nicht verhängnißvolle Verbindungen unsrer Gegner heraunahcn zu scheu. Die „M. Z." laßt sich ans Berlin berichten: Die sozialistischen Agitatoren, welche in dem Reichstag zu sitzen haben, kündigen an, daß sie am nächsten Sonnabend und Montag keine Volksversammlungen abhalten können, weil die dritte Lesung der Justizgesetze ihre Anwesen heit im Reichstage erfordere. Es scheint also dock, daß die Beschwcrocn, welche aus der Mitte der Sozialdemokratie selbst über das constante Fernbleiben ihrer Vertreter aus den Neichstagssitzungeu erhoben wur de», ihre Wirkung nicht verfehlt haben. Die Herren haben jetzt offen bar das Bcdürfniß, ihren Wählern mit dem Anscheine gegenüber treten zu können, als ob sie etwas gethan hätten. Wie sehr sie sich auch von den Wühlern haben bethören lassen mögen, dazu besitzen