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Montag, 29. Oktober 1W6. Rr. 59. Erster Jahrgang. 5luer Tageblatt und Anzeiger für das Erzgebirge !?>'l.i>Nwc»Uicher Uek>>>kleur: F r i I; !l > » l> o l k>. F in >ic ^nscrnt,' ecrauNvorUich: AIl> erI F ü,1' sei. beide i» dlnc. nut der wöchentlichen Unterhaltungsbeilage: Illustriertes Soniktagsblatt. Sprechstunde der ttcdnlcion »n« ^lnsnalince der SonnMge »achmin»>zs von 4—» Uhr. — ».ele-rra»»».Adresse: Tagel'Iolt Aue. — Fernsprecher 202. Für »nvcrlnnoN einaesandte iNnnnsfripIe knnn Gewähr nicht geleistet werden. Urnck und Uerl.ig Gebrüder enthne r (J»I>.: Paul venthner) in Uiic. Bezugspreis. Durch nnsere Uotcu frei ins linns monatlich ',<> psg. Uei der Geschäftsstelle abgel olt monatlich »» Pta. und lodcheullich >0 s>sg. — r^ei der s>ost bestellt lind selbst abgcholt vierteliährlich >.5o Ulk — Durch den r^iiesträger frei iiis Dans vierteljährlich >.g2 Ulk - Einzelne Nummer >0 s>sg. — Deutscher r>ostzeituugs- katalog — Lrscheiu» täglich in dell Mittagsstunden, mit Unsnahme von Sonn- und Feiertagen. Annahme von Anzeigen bis spätestens g'is llhr vormittags. Für Ausnahme von grSsteren Anzeige» an bestimmten Stellen kann nur daun gebürgt werden, wenn sie am Tage vorher bri uns cingchen. ) n sei t i 0nsp reis: Die siebenges^altene Uorpnszcilc oder deren Raum zo Pfg., Reklameil 2L psg. Uei grdhereii Ansträgcn entsprechender Aabatt. Diese Ntturttrev 1» Seite» Das Wichtigste vom Tage. Das Befind,» dtd Fürsten vr>» Sch»>a>st>»eg- Sondersh.iuseii Hal sich n e r s ch l i in m e r i.* In einer v.'i> 000 Personen besuchte» Bergarbeiter- v e r s a >:> m l u il g ili M e n s e l w i st nncrde gestern der Besch inst gesatzl, in allen Vage» der Lohnbewegung nnr ans die Anweisung der Siebcnelkonnnission zu Horen. In Berlin fand gestern die Enthüllung des Lorsting- Den km als stall* «k Die liebe rsnhrung der Gebeine Nakoeyr nach Buda pest ist ersolgl. Der gestrigen Feier ivvhnten stOOOOO Alen- scheu bei.' Hauptmann Lieb.rl Halle iu Deutsch - Süd west afrika bei der Verfolgung der Hotte'iiotlen mehrere ersvlgrciche G e i e ch l e. Bei dem E i s e n b a h u u n g l st ek in Amerika sollen 80 Personen ums Leben gekommen sein* Bei einem Streik in Westfalen wurden 2 P e r s v u e n durch Gendarmen gelotet.* ' Näheres siehe unten. Der verurteilte Herr Erzberger. Der Enthüller Erzberger, der schon so vielen Leuten unbequem geworden ist, hat es nun auch mit seinen engeren Be rufskollegen, den Journalisten, gründlich verdorben. Er hat behauptet, das; zwei Berliner Blätter von der Kongoregie rung bezahlt, resp. bestochen würden, ohne aber dafür einen Be weis beibringen zu können. Und daraufhin ist die gesamte Ver - li n e r Presse mörderisch über diesen Mann hergesallcn und hat ihn, wie wir telegraphisch schon melden konnten, als Verleumder gebrandmarkt. Am Donnerstag letzter Woche kamen nun gar die Vertreter der Berliner Presse zusammen; der Berliner Jour nalisten- und Schriststellerverein sah über dem „Kollegen" Erz berger zu Gericht, beschuldigte ihn des Mitzbrauchs der össentlichen Meinung, und was dergleichen schöne Phrasen mehr sind. Herrn Erzberger, der in der glücklichen Lage ist, eine ziemlich dicke Haut zu besitzen, wird das vermutlich wenig genieren; er hat cs ja auch abgelehntzu erscheinen und sich vor das Forum der Berliner Journalisten zu verantworten. Wir haben weder das Amt, noch die Lust, den Herrn Abge ordneten Erzbergcr in Schutz zu nehmen, der das übrigens bis jetzt selber ausgiebig genug getan hat. Aber um der Legenden bildung vorzubeugen, mutz doch auch betont werden, datz der Ent rüstungszauber sehr gemacht aussicht, und datz insbesondere das Forum, vor dem sich die „Berhandlung" gegen den Parla mentarier abspielte, als n i ch t e i n w a n d s s r e i bezeichnet wer den mutz. Gegen die Berliner Presse zwar nicht in ihrer Allge meinheit, aber doch gegen zwei Berliner Blätter ist von dem Ab geordneten der Borwurs der Bestechlichkeit erhoben worden, und darum kann der Berliner „Gerichtshof" nicht als unbefangen gel ten. Was den Vorwrs selbst anlangt, so ist freilich Herr Erzber ger den Beweis schuldig geblieben, aber solche Dinge lassen sich eben in der Regel nicht beweisen. Im Allgemeinen möchten wir ja nicht annehmen, datz deutsche Blätter, datz Berliner Blätter sich ohne weiteres von der Regierung des Kongostaates bestechen lassen. Aber es ist dem Zcitungsleser, der einigermatzen auf die Ereignisse und deren Darstellung in den Tagesblättern achtet, doch schon wiederholt ausgefallen, datz es Blätter gibt, die von den belgische» Kongogreuel» gar nichts zu wissen scheinen und dem Staate des industriösen Königs der Belgier eine unbegrezte Sympathie zu teil werden lassen. Das istaussällig gerade in einer Zeit, die derartige Dinge möglichst brcirgedroschen haben will, die nach Sensationen hascht. Aus Liebe zum König der Belgier ist die Vertuschung jeden falls kaum erfolgt, und cs müssen irgendwo treibende Kräfte stecken, die für den Kongostaat agitieren. Die Regierung des Kongostaates ist ja auch äutzerst tüchtig im Schönsärben. Es wird kaum eine grötzere Zeitungsredaktion geben, die nicht allmonat lich die in drei Sprachen erscheinende Zeitschrift „Die Wahrheit über den Kongostaat" zugcschickt erhält, ein Meisterstück der Schönfärberei, wie nur die Lüge es fertig bringt. Lässt es die Re gierung des Kongostaates sich aber so viel Geld kosten, um sich vor der Oessentlichkeit einigermatzen weiss zu brennen, so darf man ihr trotz gegenteiliger Versicherung auch zumute», datz sic zur d i- rekte» Vestechung schreitet, wenn sie willfährige Zeitungs leute findet. Und willfährige Zeitungsleute hat es noch immer gegeben, wenn es sich darum handelte, die leeren Taschen mit einigen Tausendmarkscheinen zu stopfen. Wir haben nun im allgecminen keine Korruption in der deutschen Presse, aber der k o r r u p t e n I o u r n a l i st e n haben wir gerade genu g. Vom Eerichtssaalreporter, der für eine Matz einen Fall überhört, bis zum politischen Nachrichtcnfabri- kanten, der zwar nicht aus schnöder Habsucht, aber aus einem nicht weniger unanständigen Motiv sich für und gegen den und jenen Staatsmann gebrauchen lätzt. Aus der Zeit Bismarcks weiss man noch ganz gut. datz damals ein R e p t i l i e n s o n d bestand, und man wcitz nicht genau, ob das nicht auch heute noch der Fall ist. Glauben möchte man das häufig genug, wenn man unter der Maske der Vicrtelsossiziosität Treibereien erblickt, die sehr un sauber erscheinen. Wie die Dinge gemacht werden, das hat man im T a u s chp r o z etz zur Genüge gesehen. Und gerade die Ber liner Presse hätte sehr wenig Anlatz, Zeter und Mordio zu schreien, wenn man ihr auch wirklich einmal ungerechtfertigter Weise auf die Hühneraugen getreten sein sollte. Es ist auch nicht das Standesbewutztsein allein, das die Her ren von der Berliner Presse zusammenrief, denn dieses Standes- bewutztsein zeigt sich sonst in recht bescheidener Weise, und das Zusammengehörigkeitsgefühl ist unter Pretzlcuten sehr wenig ausgeprägt. Man wollte ein Kitzchen auch den politischen Gegner treffen, und autzerdem hat ein wenig Eeschäftsneid bei der Geschichte mitgespielt. Man denke: was wäre das für einen Berliner Journalisten für ein gefundenes Fresse» — man verzeihe uns den drastischen Ausdruck! — gewesen, wenn er die Enthüllungen über unsere Kolonialskandale hätte bringen kön nen! Und da kam dieser kleine Schwabe mit dem grotzen Mund werk, und wutzte viel mehr, als alle Berliner Eingeweihten zu sammen! Das war bitter! Die Art der Erzbergerschen Enthüllungen hat auch uns nicht bchagt; es war zuviel Marktschreierei und bewußte Pose dabei. Aber datz enthüllt wurde, datz mutz jeder wirkliche Vater landsfreund begrüßen, denn Dinge, wie sie in unserer Kolonial abteilung und im Außendienst vorgekommen sind, müssen scho nungslos blosgestellt werden, wenn man Gesundung der Ver hältnisse will. Eine gründliche Auskehr war nötig, und wenn Abg. Erzberger dazu den Anstoß gegeben hat, so mutz man ihm das aus dem vaterländischen Gefühl heraus Dank wissen, und das müssen auch die Leute, denen Partei des Herrn Erzberger sonst wenig behagt. Er mag in manchem übertrieben haben, aber man darf nicht übersehen, datz er in seinem früheren Berus Journalist war, und ein wenig übertreiben viele Zeitungsmenschen gern. Wir denken deshalb, die Berliner Kollegen des Herrn Erzberger hätten weniger schroff in ihrer Verurteilung sein sollen — aus einer Reihe schwerwiegender Gründe! Politische Tagesschau. Aue, 20. Oktober l906. Kolonialdirektor Dernburg Mitglied der Friedensgesellschaft. Die Berliner Ortsgruppe der Deutschen Friedensgesellschaft hielt kürzlich eine Versammlung ab. Dr. Penzig referierte Uber die Frage: „Wie lernen wir die Völker verstehen?", und gedachte dabei des neuen Kolonialdirektors Dernburg, der s e i t v i e l e n Jahren der Friedensgesellschaft angehörte. Er beantragte, an ihn folgende Sympathiekundgebung abzusenden: „Die am 2S. d. M. von der Berliner Ortsgruppe der Deutschen Frie densgesellschaft und von der Berliner Abteilung der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur einberufene öffentliche Versamm lung hat mit großer Freude davon Kenntnis genommen, datz Ew. Der „Hauptmann" in Moavit. Der Köpenicker Kassenräuber Wilhelm Voigt ist am Sonn abend vom Polizeipräsidium nach dem Kriminalgerichtsgebäude in Moabit Ubergesührt worden und hier wird der Verteidiger seinem Mandanten Montag den ersten Besuch abstatten. Voigts Abschied vom Polizeipräsidium fand um >/,2 Uhr statt. Er fuhr, begleitet von drei Kriminalbeamten, in einer geschlossenen Droschke. Man hatte ihm vorsichtshalber leichte Fessel» angelegt. Ossiziersstudien. Voigt erzählte die Ausführung seines Zuges im Zusammen hänge. Hiernach war er am Tage vorher noch in N a u e n. Dort hatte er Gelegenheit, »och einige Ossiziersstudien zu machen. Er traf nämlich st» Generalstabsofsiziere, die die Funken station besuchten, und es gelang ihm, als Zivilist mit hineinzu kommen. Nach der Besichtigung fuhr er nach Hause, um sich aus- zuruhen und für den kommenden schweren Tag zu stärken. Am Morgen dieses Tages stand er schon um !i Uhr auf, ging nach der I u n g s c r n h e i d e, zog sich dort die Uniform an, sah sich, so gut es ging, noch etwas in dem Gelände um, in dem er die Wacht- kommandos absassen wollte, fuhr dann nach dem Schlesischen Bahnhof und von dort mit dem ersten Zuge um -l Uhr Ist Aiin. nach Köpenick. Ueberall begegneten ihm nur wenige Menschen. Die neugierige Betrachtung der Köpenicker Arbeiter und ihre hämischen Bemerkungen waren ihm unangenehm. Er ging daher in die erste beste Kneipe, um sich ihnen zu entziehen. Dann sah er sich in der Stadt und am Rathaus um. Den Lageplan und dem entsprechend auch seinen Operationsplan hatte er in kurzer Zeit im Kopfe. Nun fuhr er wieder »ach Ber lin. Um nicht mehr als nötig Offizieren zu begegnen, ging er in die Anstalt für Gärungsgewerbe. Der Maschinist, den er fragte, ob noch etwas zu sehen sei, antwortete, die Ausstellung fei ge schloßen, hatte aber nichts dagegen, datz er sich die Maschinen an sah. Damit war er bald fertig, da er nur flüchtig durch die Räume ging. Datz ihn ein Pförtner hinausgewiesen habe, be streitet er. Wer Hütte auch gegen ihn, den bescheidenen, alten Hauptmann, unfreundlich sein sollen! Freiwill verließ er die Anstalt und ging zu Reichel, um ei» Butterbrot und ein Glas Wein zu genieße». Dabei kam er ins Plaudern. Mittagbrot will er nicht gegessen habe», getrunken außer dem Wein nur einen Kognak. Wann die Wachen abgelöst wurden, wutzte er ge nau. Die Soldaten holte er nur mit einem kurzen Be fehl heran. Die Gefreiten folgte» sofort. Das Befehlen Uber- lietz der Hauptmann jetzt dem Aeltcstcn von ihnen. Er gab nur noch hin und wieder leise eine Information. Datz sein Zug ge lingen werde, bezweifelte er nicht einen Augenblick. Mit der grötzten Zuversicht fuhr er nach Köpenick. Seine Legitimation stand hinter ihm. Wäre es im Rathause jemandem eingefallen, ihm Wider stand zu leisten, so hätte er ihn sofort von den Grenadieren in ein Zimmer sperren und isolieren lassen. Sonst hatte er nicht die Absicht, irgendwie Gewalt anzuwenden. Bei Durchführung der Isolierung hätte der Widerstand von selbst ausgehört. Er selbst, sagt der Hauptmann, habe später über die ganze Geschichte lachen müssen. Von einem Raub könne nicht die Rede sein, ebenso wenig von einer räuberischen Erpressung. Nur ein Dieb stahl liege vor. Der Rendant habe selbst das Geld aus dem Spinde geholt, es in den Beutel getan und diesen versiegelt. Dann habe er das Eeldspind wieder verschlossen. Für die Rückfahrt nach Berlin löste sich der Hauptmann aus dem Bahnhof eine Fahr karte nach der Friedrichstratze, um nicht Verdacht zu erregen. Ge gen die Behauptung, datz er aus dem Bahnhof Köpenick drei Glas Vier hinuntergestürzt habe, verwahrt sich der Hauptmann. Das hätte sich fUr einen Offizier nicht geschickt. Eine solche Dummheit habe er nicht gemacht. In Köpenick habe er nur eine Tasse Kaffee getrunken. Er stieg dann schon in Kietz-Rummelsburg aus, legte unbemerkt die Feldbinde wieder unter dem Mantel um und ging dann zu Futz durch die Stratzen nach der Warschauer Brücke. Non dort fuhr er mit der Hochbahn nach der Möckernstratze, in der er sich sosort neue Stiefeln kaufte. Hierauf fuhr er mit einer Droschke zu Hoffman», um Zivilkleidung zu kaufen. Mit der selben Droschke, die er unterdessen hatte warten lassen, fuhr er nach dem Mittenwalder Kleinbahnhof. Dort wollte er sich erst umziehen, sah aber davon ab und ging zur Umkleidung aus das freie Tempelhofer Feld hinaus. Den Degen lietz er mehr aus Vergetzlichkeit als mit Ucberlegung aus dem Bahnhof stehen. Mantel und Rock vergrub er auf einem Hügel in der Nähe des Gehölzes. So sagt er wenigstens. Nach dem Verbleib dieser Kleidungsstücke wird auf dem Felde geforscht. Um Uhr war der Hauptmann mit der Beute zu Hause. Der Zug hatte ihn so angegriffen, datz er längerer Ruhe bedurfte. Besonders schmerz ten ihn die Beine. Strenger als jeden andern. Seine „Aussichten" hält der Hauptmann für nicht sehr günstig. Er sürchtet, datz das Gericht ihn strenger herannehmen werde als jeden anderen. Dagegen, meint er, komme es ihm wie der zugute, datz von den schwersten Verbrechen keine Rede sein könne. Eine Urkundenfälschung liege ganz und gar nicht vor. Unterschrift, die man v. Alassam gelesen habe, stelle überhaupt keinen Namen dar. Sie sei zu lesen: „war niemals Hauptmann im 1. Gardercgiment". Und ein solcher Hauptmann sei er ja da mals gewesen. Alles in allem glaubt Voigt mit vier Jahren weg- zukommen. Eine bittere Enttäuschung hat durch die Verhaftung des Hauptmanns Voigt dessen Braut, die Fabrikarbeiterin Riemer erfahren. Am Sonntag vor dem Handstreich hatte Voigt sie be sucht und ihr erzählt, er müße am Dienstag verreisen, um eine Erbschaft abzuheben. Wenn die Erbschaftsregulierung erfolgt sei, dann könnte er heiraten; also war die Köpenicker Stadtkasse als Heiratsgut bestimmt. Frau Riemer, die von ihrem ersten Manne geschieden ist, hatte Voigt im Laden seiner Schwester kennen gelernt. Sie hatte in der Kopfstratze 20 eine Küche gemietet, die sie bewohnte. Ihre Wirtin riet ihr, über die Vergangenheit des Bräutigams Erkundigungen einzuziehen, dies unterblieb aber, weil die Schwe ster und alle Leute, die mit Voigt zusammenkamen, nur gutes über ihn sagen konnten.