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Beilage zu Nr. 136. Mittwoch, den 19. November 1902. Znm Vu^tag. (Nachdruck verboten.) Aic Außtagsgtockcn, ernst und dumpf, Sic schallen durch die Lunde, Lie fraßen Dich, ob sich Dein Korz Don seinem Kolle wandle? Kast Du des treuen Waters Kaus Dicht frevelnd langst gemieden? Dun wanderst Du in Dacht und Kraus And ohne Klüch und Frieden! Wie selig war der Kindheit Traum Am treuen Klternhcrzcn! Du wußtest nichts vom Trug der Welt. Aon Künde, Schuld und Schmerzen. Hin Waradics voll Seligkeit War in Dir aufgegangen — Längst schwand dahin die gold'ne Dell Wit Deiner Jugend Wrangen! Aun suchst Du wohl im Weltgewühk Des Kcrzens stillen Frieden; Doch wisse: hier ist nimmermehr Dir solches Klüch beschicken! Zurück, zurück in s Datcrhaus! Ans Aatcrycrz, das'treue! Kior weine Deinen Kummer aus In göttlich sel'gor Acne! Körst Du der A « Kannst ihren T Wußtagsglocken Klang ? Hon Du deuten? Wohl klingt er ernst, doch kündet er Dir Freuden über Freuden! das Aatcrherz Erschließt er irren Sündern And weist sie liebend hsimathwärts, Wacht sie zu Kolleskindern! Zweimal verwaist. Novellctte von Edmund Handtke. (Nachdruck verboten.) Ein heißer Sommertag neigt sich seinem Ende zu; kein Lüftchen regt sich, und fernher tönt das Rollen der letzten einfahrenden Erntewagen. Die Strahlen der scheidenden Sonne lassen Alles wie in flüssiges Gold getaucht erscheinen, sie werfen zitternde Reflexe auch in jenes Zimmer des weitläufigen Schlosses, wo ein einsamer Mann am Fenster steht und sinnenden Auges in den Park hinabdlickt. Der eigenartige Zauber des zur Rüste gehenden Tages hat auch den Grafen Eberhard Wredom in seinen Bann gezogen, eine träumerische Stimmung war über den sonst 10 energischen thatkräftigen Mann gekommen. Unwillkür lich flogen seine Gedanken in die jüngste Vergangenheit zurück, die schweres Leid über das sonst so ruhig-friedliche Haus gebracht. Mit dem ins Land ziehenden Frühling war das schwache Lebenslicht der seit langen, kränklichen Gräfin, der Mutter Eberhards, erloschen, und schon nach wenigen Wochen stand dieser auch an der Leiche der Gattin. Ein hitziges Fieber, die Folge einer nicht beachteten heftigen Erkältung hatte sie hiuwcggerafft. Es war eine ruhige, auf gegenseitiger Achtung be gründete Ehe gewesen, die der Tod hier mit rauher Hand gelöst. Das Herz hatte nicht mitgesprochcn, als Graf Eberhard einst um die Hand seiner Base zweiten Grades auhielt; es galt lediglich einen Wunsch der beiderseitigen Familien zu realisiren. Mit der Zeit hatte sich dann ein Gefühl kameradschaftlicher Zusammengehörigkeit zwischen den beiden Gatten herausgebildet, weit entfernt von jeder aufregenden Leidenschaftlichkeit. Das äußere Leben auf Schloß Wredow war durch den Tod der jungen Herrin fast unberührt geblieben. Um das Getriebe des Haushalts hatte sich die Verstor bene nicht sonderlich gekümmert, wußte sie doch Alles in guten Händen und die Sorge für seine beiden Söhne im Älter von fünf und drei Jahren hatte Graf Eberhard einer Erzieherin anvertraut, die ihm von einer befreundeten Familie in der Hauptstadt warm empfohlen worden war. Wohl betrauerte der Graf die Heimgegangene auf richtig, aber mit dem Schmerz des trostlosen Gatten hatte diese Empfindung wenig gemein. Er gedachte ihrer eben wie eines guten Freundes, dessen Tod wohl in alte lieb gewonnene Verhältnisse störend eingreifen, diese aber aus die Dauer nicht erschüttern kann. Die Hauptsorge wandte sich jetzt seinen beiden Knaben zu, deren körperlichem und geistigem Wohl er jetzt erheb lich mehr Aufmerksamkeit zuwenden mußte als früher. Wenn er aber auch seine Buben zärtlich liebte, zum Pä dagogen war Eberhard Wredow nicht geboren. Es be deutete daher eine große Erleichterung für ihn, als er diese verantwortungsvolle Pflicht zum größten Theile in die Hände der Erzieherin legen konnte. Graf Wredow schätzte sich glücklich, daß seine Wahl auf Magda Falk gefallen war und daß diese sich bereit erklärt, den verwaisten Kleinen die Mutter zu ersetzen. Denn sie nahm es sehr ernst mit ihrer Pflicht. Durch ihr liebevolles Entgegenkommen, ihre sanfte, sympathische Stimme wußte sie sich die Herzen der Kinder vom ersten Tage ab zu gewinnen und das innige Verhältniß vertiefte sich noch, als Magda ihre kleinen Pfleglinge näher kennen gelernt und ihre Eigenheiten studirt hatte. Obwohl nicht direkt auf ihren jetzigen Beruf vorbe reitet, hatte Mag1>a Falk in ihrem kindergesegneten Eltern hause hinreichend Gelegenheit, sich im Umgang mit den Kleinen zu üben und ihre gediegene wissenschaftliche Bildung befähigte sie, auch den weitergehenden Änsprüchen gerecht zu werden. Als ihr Vater, ein höherer Justizbeamter, dann plötzlich starb und die Seinen in bescheidenen Ver- hältuissen zurückließ, ergriff Magda mit Freuden die Ge legenheit, etwas zur Unterstützung der Ihrigen beitragen zu können. Die Kinder hingen mit schwärmerischer Liebe an ihrer Tante Magda; die sonst so ungeberdigen Knaben folgten jedem Blick ihrer Augen. Es gab wohl überhaupt im ganzen Schlosse Niemand, der dem jungen Mädchen nicht von Herzen zugethan gewesen wäre. Auch Graf Eberhard hatte sich schon öfters ertappt, wie er mit bewundernden Blicken der schlanken biegsamen Gestalt gefolgt war. Wenn er jedoch in seinen Anerkenn ungen, die er dem jungen Mädchen spendete, unwillkürlich einen wärmeren Ton anschlug, dann ließ ihn ein erstaunter Blick aus den feuchtschimmernden blauen Augen oft mitten im Satz abbrechen. Eine seltsame Unruhe war über den sonst so gesetzten Mann gekommen. Mit aller Kraft wandte er sich den seit längerer Zeit vernachlässigten Arbeiten zu, uw in angestrengter Thätigkeit das seelische Gleichgewicht wieder zu erlangen. Doch vergebens. Ueberall sah er einen blondlockigen Mädchenkopf vor sich, glaubte die blauen Augen wie in scheuer Frage auf sich gerichtet. In dieser Stimmung pflegte er oann wohl das Kinder zimmer aufznsuchen und sich an dem munteren Treiben der Kleinen zu ergötzen. Aber eS schien ihm dann, als ob Magda in seiner Gegenwart ihre reizende Unbefangenheit verlöre. Die eigenartige Scheu, die sich ihrer sichtlich be mächtigte, ließ allmählich die ausgelassene Fröhlichkeit ver stummen. Seitdem wurden die Besuche des Grafen im Kinder zimmer seltener, man sah sich nur bei den gemeinschaft lichen Mahlzeiten. Um so mehr nahm er jedoch jede sich ihm bietende Gelegenheit wahr, Magda ungesehen zu be obachten. Auch jetzt hat er wieder seinen Beobachtungsposten am Fenster seines Arbeitszimmers eingenommen, weiß er doch, daß Magda um diese Zeit von dem täglichen Spazier gänge heimzukehren und dann noch einige Minuten mit den Knaben in den Gängen des Parkes herumzutollen pflegt. Schon schimmern die Hellen Kleider des unzertrenn lichen Kleeblatts durch das dämmerige Grün, als plötzlich lautes Geschrei vom Wirthschaftshof herüber jäh die abendlicke Stille unterbrach. Athemlos vom schnellen Lauf kam ein Knecht herbei gestürzt und rief schon von Weitem: „Um Gottes Willen retten Sie sich, der große Hof hund drüben ist plötzlich toll geworden! Er hat die Kette zerrissen und rast jetzt im Parke umher!" Er hatte noch nicht ausgesprochen, als das wüthende Thier auch schon aus dem Gebüsch hervorschoß und auf die ihm zunächst stehenden Kinder los stürzte. Doch bevor sich Jemand von dem lähmenden Entsetzen erholt hatte, welches der furchtbare Anblick verbreitete, hatte sich Magda mit Gedankenschnelle zwischen ihre be drohten Pflegebefohlenen und die wuthschäumende Bestie geworfen und ein ungleicher, entsetzlicher Kampf entspann sich. Die Verzweiflung verlieh dem jungen Mädchen Riesenkräfte, krampfhaft gruben sich ihre Finger in das zottige Fell des Hundes. Graf Eberhard hatte einen Hirschfänger von der Wand gerissen und sich mit einem Satz aus dem Fenster geschwungen. Im nächsten Augenblick war er auf dem Kampfplatz augelangt und ein wohlgezielter Hieb spaltete dem Thiere den Schädel. Es war jedoch auch die höchste Zeit, denn dem helden- müthigcn Mädchen schwanden die Kräfte und aus vielen liefen Wunden blutend sank es ohnmächtig zu Boden. Erschüttert kniete der Graf an ihrer Seite, beugte sich über sie und rief in verzweifeltem Schmerz: „Sie stirbt! O mein Gott, sie stirbt!" „Holt Aerzte!" herrschte er dann wie sich besinnend den fassungslos dabei stehenden Knecht an, „nehmt die besten Pferde und schont sie nicht!" Von Neuem beugte er sich über die noch immer wie leblos Daliegende. „Magda, liebe Magda, schlage doch noch ein einziges Mal die Augen auf!" Da flog ein Zucken über das blasse Gesichtchen, die Lider hoben sich und mit leiser Stimme sagte sie: „Ist es wahr, bin ich Ihre liebe Magda?" Mtome. 27 Roman von I). v. Schrewerzffoken Antonie zeigte so viel Selbstbeherrschung und Verständnis; für ihre? Vater? Wünsche, wußte ihn so richtig und schonend zu behandeln, daß er sich unter ihrer Pflege überraschend schnell erholte. Melanies Gegenwart hatte ihn erregt und, wie man jetzt 'ab, seinen Zustand verschlimmert. Auf seinen eigenen Wunsch ward die graue Schwester sehr bald ent lasten, er wollte ganz allein mit Antonie sein, die ihm in dieser Zeit unbeschreiblich nahe kam. Diese Wochen prägten sich ihr sehr tief ein; sie meinte erst jetzt zu misten, wie lieb sie ihren Vater habe, und suhlte mit unaussprechlicher Freude, daß auch er sie täglich mit innigerer Liebe umfing. Oft sprach er von seinem baldigen Tode, bis sie ihn unter heißen Thränen beschwor, ihr Herz nicht mit solchen Worten zu zerreißen- Ohne ihn und seine Liebe sei ihr Leben elend. Bon ihrer Mutter redete sie nicht wieder, sie schrak vor dem Gedanken, jenen Augenblick, wo er erkrankt war, wieder her aufzubeschwören, zurück wie vor einem Verbrechen. Monate vergingen, des Freiherrn Kräfte kamen langsam zu rück, der Arzt konnte Hoffnung auf gänzliche Genesung geben, vorausgesetzt, daß jede Art Gemüthsbewegung fern gehalten Verde. Antonies Lächeln erheiterte wieder ihr Antlitz, ihr Schritt war wieder leicht, ihre Augen glänzten, die ganze Welt lachte ihr aufs Neue. Sogar für Carlo Salvi, der sich auch wieder fingestellt, hatte sie eine freundliche Antwort und begrüßte ihn so warm, daß seine dunklen Augen hell aufleuchteten. Mit den zunehmenden Körperkräften Dyrenhorsts zeigte sich sehr bald eine ebenso wachsende innere Unruhe, deren Grund vergeblich von Antonie gesucht ward. Und manchmal schien ihre Gegenwart diese Aufregung zu steigern, ein Wort konnte sie Hervorrufen, und Antonie wußte niemals, wie sie den Kranken wieder beruhigen sollte. An einem Morgen, nachdem er sich und seine Tochter außergewöhnlich viel gequält, ihre Fragen schroff abgewiesen, sie in derselben Minute geliebkost und zurückgestoßen und ihr einmal versichert hatte, die Sorge für sie sei sein größtes Glück, gleich darauf, er gehe daran zu Grunde, rief er sie an sein Lager und bedeutete sie, sich zu setzen. „Ich darf es nicht länger ausscbieben", sagte er, und sein bleiches, entsetzlich abgemagertes Gesicht, durch das spärliche wirre graue Haar seinem früheren Aussehen noch unähnlicher geworden, zeigte einen entschlossenen Zug. „Ich habe gezögert, ich hatte Erich versprochen — doch Pater Leo hat Recht, ich will Dich ja nicht bereden, ich will Dir nur die unausbleiblichen Folgen zeigen. Antonie, wird es Dich schmerzen, wenn ich nicht mehr bei Dir bin?" Ein jäher Schrecken durchzuckte Antonie. So aufopfernd und tüchtig sie sich gezeigt, die lange Zeit der Trauer und Sorge war für ihr leichtlebiges, heiteres Temperament ein säst unerträglicher Druck gewesen, und in ihren Schrecken über diele Frage, die eine Verschlimmerung zu bedeuten schien, mischte sich sofort die ihr selbst noch unklare Angst vor der Wiederholung der Last, die sie kaum abgeschüttelt hatte. Große Thränen füllten ihre Augen, sie sank auf ihre Kniee nieder und fragte unter bitterem Weinen, seit wann er sich kränker fühle. „Es ist nicht das", antwortete Dyrenhorst, und seine blaßblauen Augen sahen nach einem Bilde am Fußende seines Bettes, das die Krönung Mariä darstellte, „ob ich jetzt oder in Jahren sterbe, Kind, es bedeutet immer dasselbe, eine ewige Trennung. Ewig, Antonie! Weißt Du, was das sagen will! Denn — Antonie, Kind meiner Sorgen, 'meiner Schmerzen, ewig ist unsre Trennung, wenn Du uns nicht die Gewißheit eines Wiedersindens giebst! Von Dir allein hängt es ab, Toni, Du allein kannst mir die Ruhe geben, deren ich zum Leben und Sterben bedarf." Antonie erhob sich verwirrt. „Was meinst Du, Papa?" Prüfend ruhte sein Blick auf der reizend entwickelten Mädchengestalt. Das war kein Kind mehr, hier stand ein erwachsenes Mädchen, ganz fähig, ihren Entschluß zu fassen, welcher Kirche sie angehören wolle. Pater Leo hatte Recht. In diesem schweren, sorgenvollen Jahre war sie zur holdesten Jungfrau erblüht. In eigenartiger, reizvoller Schönheit stand sie vor ihm, das schöne Haupt ängstlich gesenkt, so daß die blonden Löckchen über ihre weiße Stirn fielen und die schwarzen Augen beschatteten, die fragend auf ihn blickten. Das schöne Oval des rosigen Gesichts, der volle kleine Mund, die seine grade Nase — Dyrenhorst betrachtete jeden einzelnen Zug, als sei er ihm frcmd und als wundere er sich, so wenig Bekanntes in dem Antlitz seines Kindes zu finden. „Antonie, Haft Du Dich schon von mir und meiner, der allein wahren Kirche abgewcndet? Hast Du schon die Scheidewand aufgerichtet, die Dich und mich auf ewig trennt?" Seine Frage klang ernst und feierlich, aber sein Blick hatte etwas Kaltes, das mit seiner Klage über die ewige Trennung, mit dem Schmerz, der ihn zerriß, nicht ganz übereinstimmte. „Ich — ich babe noch nichts beschlossen", sagte sie leise, „der Zeitpunkt ist noch nicht da, und — ich habe jetzt nicht daran gedacht — „Nicht daran gedacht!" rief er ans und schob sie zurück. „Mitleidlos überläßt Du mich also der Qual der Ungewißheit, den Vorwürfen meines Gewissens. Dein Seelenheil durch ein unbedachtes Wort in Frage gestellt zu haben, wovon auch mein ewiges Heil, meine Seelenruhe abhängt. Hier wie in Jenseits muß ich büßen, falls Du mir nicht die Ruhe giebst." — Er rang die Hände, er warf sich hin und her, richtete sich dann anß als wolle er knieen, streckte die gefalteten Hände empor und rief laut: „Barmherziger, gnadenreicher Gott! Vergieb, o Ewiger, daß ich Deinen Willen, den Du mir Unwürdigen geoffenbart, nicht befolgt, sondern mich ourch Schwäche und Menschcnsurcht habe leiten lassen." .